Die Leipziger Autoritarismus-Studie erhebt unter anderem regelm??ig, wie weit verbreitet antisemitische Ressentiments in Deutschland sind. Welche Entwicklungen haben Sie in den vergangenen Jahren beobachtet und welche Bev?lkerungsgruppen fallen dabei besonders ins Auge?
W?hrend ein tradierter und offener Antisemitismus seit 2002 zurückgegangen ist und nur noch etwas mehr als 3 % der Deutschen als überzeugte Antisemit:innen gelten k?nnen, sind seit Jahrzehnten 30 % der Deutschen von der Richtigkeit eines Schuldabwehr-Antisemitismus überzeugt. Die Zustimmungsraten zu einem israelbezogenen Antisemitismus sind zwischen 2020 und 2022 sogar leicht gefallen und bewegen sich zwischen 10 und 20 Prozentpunkten an Zustimmung. Antisemitische Ressentiments haben also nicht wirklich zugenommen, sie werden nur im ?ffentlichen Leben pr?senter – und sind scheinbar sagbarer geworden.
Antisemitische Ressentiments finden sich besonders stark im extrem rechten politischen Spektrum bis hin zur Mitte der Gesellschaft sowie in Teilen in muslimischen Communities. Greifen erstere gerne auf einen Schuldabwehr-Antisemitismus (sekund?ren Antisemitismus) zurück, der bis hin zu einer Schuldumkehr, wo Juden und Jüdinnen zum Schluss am Holocaust sogar selber schuld sein sollen, reichen kann, ist unter Muslim:innen der israelbezogene Antisemitismus st?rker als im Bev?lkerungsdurchschnitt verbreitet.
Dies zeigen Ergebnisse aus der Leipziger Autoritarismus-Studie und der begleitenden Erhebung unter Muslim:innen aus dem Projekt ?Radikaler Islam – Radikaler Antiislam“ (RiRa). Dort halten immerhin 52 % der deutschen Muslim:innen die Gründung Israels für eine schlechte Idee. Zur Wahrheit geh?rt allerdings auch, dass die H?lfte der Muslim:innen israelbezogenem Antisemitismus nichts abgewinnen k?nnen. Gleichzeitig w?chst unter Deutschen, die sich dem rechten Spektrum zuerkennen, der Schuldabwehr-Antisemitismus bis über 60%. Antisemitismus ist also – ohne den Befund einschr?nken zu wollen – keineswegs allein eine Sache der Muslim:innen, wie mancher einem glauben machen m?chte. Genau genommen muss von Fall zu Fall entschieden werden, ob eine Person sich israelkritisch oder antisemitisch ?u?ert.
Antisemitische Ressentiments sind zudem unter jüngeren Menschen in Deutschland seltener verbreitet als unter ?lteren Menschen, was besonders stark für den Schuldabwehr-Antisemitismus gilt.
In welchen Formen begegnet uns Antisemitismus im Alltag?
Antisemitische Ressentiments sind in der post-nationalsozialistischen Gesellschaft nie wirklich verschwunden. Antisemit:innen haben sich nur vermehrt eine Umweg-Kommunikation gesucht, die ihnen im Notfall erm?glicht, es abzustreiten ein:e Antisemit:in zu sein. So erm?glicht die ?u?erung, dass man den ?Erinnerungskult“ mit dem Holocaust heute mal ruhen lassen k?nne oder Israel an aller Not der Welt schuld ist, sich antisemitisch zu ?u?ern und dies im Notfall als harmlose eigene Meinungs?u?erung deklarieren zu k?nnen.
Vergleichbares findet sich für einen auf D?monisierung, Delegitimierung und doppelte Standards beruhenden Antisemitismus, der sich als Israelkritik tarnt, aber in Wirklichkeit keine konkret formulierte – und dann auch berechtigte – Kritik ?u?ert. Hinter diesen Aussagen steht eine breitere Verinnerlichung antisemitischer Ressentiments in der Gesellschaft, als man sie gerne glauben wollte. So befürworten 41 % der Deutschen in der Leipziger Autoritarismus-Studie 2022 die Aussage ?Reparationsforderungen an Deutschland nutzen oft gar nicht den Opfern, sondern einer Holocaust-Industrie von findigen Anw?lten“ und 19 % sehen ?Israels Politik in Pal?stina als genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg“. Und dies sind nur diejenigen, die explizit solchen Aussagen zustimmen und nicht einer Antwort ausweichen.
Andererseits zeigen die Menschen in Deutschland gefühlt mehr Solidarit?t mit Israel als in anderen europ?ischen L?ndern – beispielsweise mit Blick auf die Terrorangriffe der Hamas vom 7. Oktober 2023. Ist das Ihrer Einsch?tzung nach tats?chlich so und – wenn ja – h?ngt es mit der deutschen NS-Vergangenheit zusammen?
Ohne Frage, die starke Solidarit?t ist auch aus der diesbezüglich stark belasteten Vergangenheit zu erkl?ren. Dies hat nicht nur auf der politischen Ebene, sondern auch über pers?nliche Besuche von Deutschen in Israel und eine gestiegene Besch?ftigung mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu besonderen Beziehungen zu Israel geführt.
Gleichzeitig gab es immer Gegenbewegungen, wie ich sie ja bereits beim Schuldabwehr-Antisemitismus, mit seinem Versuch einen Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit zu setzen, aufgezeigt habe. Trotz aller gewachsener Offenheit bleibt eine doch tiefe Verankerung des antisemitischen Ressentiments, die dann aufbricht, wenn nach Sündenb?cken für etwas gesucht wird. Hier kann man vermutlich dem Psychoanalytiker Zvi Rex folgen: ?Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen."
Neu gew?hlter Beauftragter gegen Antisemitismus
Prof. Dr. Gert Pickel ist am 23. Januar 2024 zum Antisemitismusbeauftragten der Universit?t Leipzig gew?hlt worden. Der Senat der Universit?t hatte im Dezember 2023 die Einrichtung dieses Amtes beschlossen, um auf den Anstieg antisemitisch motivierter Vorf?lle und Diskriminierungen in Deutschland insgesamt, aber speziell auch an Hochschulen zu reagieren.
?Ich will im Amt vor allem Ansprechpartner für jüdische Studierende und Mitarbeiter:innen der Universit?t Leipzig sein," erkl?rt Pickel. ?Gleichzeitig geht es mir darum, die intensive und auch differenzierte Auseinandersetzung mit Antisemitismus an unserer Universit?t zu st?rken und voranzubringen. Gerade vor dem Hintergrund der stetigen Existenz von Antisemitismus, aber auch der zu beobachtenden Revitalisierung antisemitischer Ressentiments in der ?ffentlichkeit, scheint mir dies eine wichtige Aufgabe für unsere Universit?t zu sein.“