Pressemitteilung 2024/112 vom

Die AfD ist für ihre Sympathisant:innen und Unterstützer:innen eine attraktive Gefühlsgemeinschaft, ein Ort zum rechten Wohlfühlen. Sie bietet ihren Anh?nger:innen aufwertende Identit?ten und vermittelt eine Gefühlswelt, die sie gegen kritische Einw?nde immunisiert. Zu diesen Ergebnissen kommt der Politikwissenschaftler Dr. Florian Spissinger von der Universit?t Leipzig. Für seine ausgezeichnete Dissertation beobachtete er in zwei verschiedenen Regionen Deutschlands Vortragsveranstaltungen, Stammtische sowie Wahlkampfst?nde der AfD und führte Interviews mit AfD-Unterstützer:innen.

Die AfD pr?ge und festige die Gefühle und Identit?ten von Menschen, etwa indem sie bestimmte Narrative verbreite, so ein zentrales Argument der Studie. Untergangsnarrative, wie beispielsweise von einer drohenden ??kodiktatur“ oder vom ?Bev?lkerungsaustausch“, verdichteten sich zu einer Gefühlswelt, die den Blick von AfD-Sympathisant:innen ausrichte und sich in deren Alltagserleben permanent selbst best?tige. Wer sich in dieser Gefühlswelt bewege, suche und finde überall ?Beweise“ für die eigene ?berzeugung, derzufolge alle anderen Parteien, allen voran die Grünen, eine ?deutschlandfeindliche“ Politik betreiben würden.

Hinzu komme, dass diese Gefühlswelt etwa beim kollektiven Schimpfen und sp?ttischen Gel?chter in der AfD-Gemeinschaft weiter verfestigt werde, so Dr. Florian Spissinger: ?Dabei k?nnen sich AfD-Unterstützer:innen als Teil einer gro?en und wichtigen Gemeinschaft, als ?Widerst?ndige‘ oder auch als ?Erwachte‘ erleben. Sie k?nnen sich als eine Avantgarde fühlen, wenn sie bei ihren Zusammenkünften auf die politische Konkurrenz beispielsweise kopfschüttelnd oder belustigt herabschauen.“ Die Abkehr vom politischen und medialen ?Mainstream“ übersetze sich in ein ?erhabenes Gefühl der Befreiung“.

?Man sieht sich als aufgekl?rt und überlegen gegenüber einer Welt aus ?Schlafschafen‘ und medialer ?Verblendung‘. Wer sich bereits wie selbstverst?ndlich in der neurechten Gefühlswelt bewegt, wird von Warnungen und Kritik – ob vom Verfassungsschutz oder von Bekannten – in aller Regel nicht zum Umdenken bewegt oder gar ein schlechtes Gewissen bekommen. Eher wird daraus die Best?tigung der eigenen Weltsicht gezogen und das Gefühl bekr?ftigt, als einzige noch ?frei‘ denken zu k?nnen und ?die Wahrheit‘ zu vertreten“, erkl?rt Spissinger. Wegen der aufwertenden, best?tigenden und immunisierenden Funktionsweise der neurechten Gefühlswelt sei es so schwierig, diese Menschen zur Umkehr zu bewegen, so der Wissenschaftler.

Zusammenkünfte, Reden und Texte analysiert

Grundlage von Spissingers Erkenntnissen bildet eine ethnografische Forschungsmethode: Insgesamt 15 Zusammenkünfte in je einer Stadt in Ost- und Westdeutschland hat der Wissenschaftler im Jahr 2019 beobachtet, von Podiumsveranstaltungen über Stammtischformate bis hin zu Treffen an lokalen Wahlkampfst?nden. Dort führte er mit rund 40 AfD-Sympathisant:innen und Unterstützer:innen Interviews und Gespr?che. ?Zudem habe ich die Reden der AfD-Politiker:innen, die Resonanz im Publikum, aber auch Wahlkampfmaterialien sowie neurechte Literatur in einer intertextuellen Analyse integriert.“ Es gehe darum, ?Narrative, Identit?ts- und Gefühlsangebote auszumachen, die sich über die verschiedenen Quellen, Beobachtungen und Kontexte hinweg ?hneln beziehungsweise wiederholen.“ 

Zwar flie?en in die Untersuchung auch die regionalen Differenzen zwischen den beiden Untersuchungsorten ein –  Spissinger widmet sich etwa dezidiert der aufwertenden Identit?tspolitik der AfD für ihre ostdeutschen W?hler:innen – vor allem konzentriert sich die Untersuchung jedoch auf die überregional geteilte Gefühlswelt. So wird beispielsweise deutlich, dass es sich bei den AfD-Narrativen gegen den Kohleausstieg am ostdeutschen Untersuchungsort und gegen den Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor am westdeutschen Untersuchungsort letztlich um Varianten desselben handelt: Es gehe um anti-klimapolitische Untergangsnarrative, die den Eindruck von einer ?deutschlandfeindlichen Politik der Deindustrialisierung“ verbreiten sollen. In Anbetracht derartiger Bedrohungsszenarien k?nne man sich bei der AfD als Partei des ?Widerstands“, der Rettung und der Hoffnung fühlen, so Spissinger. 

Die Aussagekraft der ethnografischen Studie über die neurechte Gefühlspolitik und Gefühlswelt gehe über blo?e Momentaufnahmen bei AfD-Veranstaltungen an zwei Orten in Deutschland hinaus, so Spissinger. Er verorte die Gefühlswelt von AfD-Sympathisant:innen in einem gro?en Kontext: Sie sei auch Ausdruck eines weit verzweigten, zunehmend international und digital gepr?gten Netzwerks, in dem neurechte Narrative und Gefühle zirkulieren.

Die Dissertation von Florian Spissinger ?Die Gefühlsgemeinschaft der AfD. Narrative, Praktiken und R?ume zum Wohlfühlen“ ist im Verlag Barbara Budrich erschienen und als Open Access verfügbar (DOI: 10.3224/3063). 

 

Spissinger war Doktorand am Institut für Politikwissenschaft der Universit?t Leipzig. Mit seiner Dissertation gewann er den ?Budrich-Dissertationswettbewerb promotion 2023“ und wurde für den Deutschen Studienpreis 2024 der K?rber-Stiftung nominiert.