Pressemitteilung 2024/014 vom

Das Geheimtreffen Rechtsextremer in Potsdam alarmiert die Gesellschaft. In vielen St?dten haben Tausende Menschen gegen rechts demonstriert, zahlreiche weitere Demonstrationen sind angekündigt. Protestforscher Dr. Alexander Leistner vom Institut für Kulturwissenschaften der Universit?t Leipzig rechnet mit einer ?anhaltenden Dynamik“. Er sagt: ?Für die einen sind die Demonstrationen wie ein Weckruf, um aus einer Art Schockstarre aufzuwachen. Für andere wirkt es wie ein Aufbruch, auf den man gewartet hat, weil viele schon lang Engagierte vielleicht auch ein Gefühl der Resignation hatten in den letzten Monaten.“

Herr Leistner, kommt da was Gr??eres ins Rollen?

Im Moment erleben wir eine Protestwelle, die sich eher noch aufbaut, als dass sie nach den gro?en Demonstrationen der letzten Tage abflaut.  Allein über das kommende Wochenende sind deutschlandweit 100 Demonstrationen geplant. Das entfaltet eine spürbare Dynamik in viele Richtungen. Einerseits gibt es die anlassbezogenen Demonstrationen, die vielerorts wie aus dem Boden sprie?en, und zum anderen werden in schwierigen Regionen auch sehr konkrete Gegenproteste gest?rkt und wiederbelebt. Man konnte das in Dresden sehen, wo es Gegenproteste gegen flüchtlingsfeindliche Demonstrationen gab oder in Gera mit Protesten gegen einen Auftritt von Bj?rn H?cke.

Warum passiert das jetzt? Sind die Enthüllungen über das Potsdamer Treffen der entscheidende Anlass? Oder das Wahljahr, das begonnen hat?

Ich glaube, hier haben sich zwei Entwicklungen verschr?nkt. Die Enthüllungen haben einer breiteren ?ffentlichkeit deutlich gemacht, wie tief die AfD ins v?lkisch-neonazistische Spektrum verstrickt ist und wie grundlegend umstürzend die Fantasien dieses Spektrums zur Umgestaltung unserer Gesellschaft sind. Manches davon konnten Interessierte schon wissen, aber das Treffen hatten eine andere Qualit?t der Vernetzung und der Konkretion und dadurch eine besondere Brisanz. Und vor dem Hintergrund der prognostizierten St?rke der AfD mindestens bei den ostdeutschen Landtagswahlen bekommt für viele Menschen die Bedrohungskulisse pl?tzlich scharfe Konturen. Das wird verst?rkt durch momentan nicht abbrechende neue Enthüllungen und die Kommunalwahlen in einigen ostdeutschen L?ndern, die jeweils für sich ?ffentlich sichtbare Zitterpartien sind.

Wie sch?tzen Sie die Perspektive der Demonstrationen ein? Ist der Protest von Dauer?

Ich denke schon, dass daraus eine anhaltende Dynamik entsteht. Für die einen sind die Demonstrationen wie ein Weckruf, um aus einer Art Schockstarre aufzuwachen. Für andere wirkt es wie ein Aufbruch, auf den man gewartet hat, weil viele schon lang Engagierte vielleicht auch ein Gefühl der Resignation hatten in den letzten Monaten. Und man kann beobachten, dass neben den Demonstrationen der letzten Tage auch breite Bündnisse in der Gesellschaft entstehen. In Thüringen etwa das Bündnis ?weltoffenes Thüringen“  als weitgef?cherter Zusammenschluss von Unternehmen, Religionsgemeinschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverb?nden, Vereinen, Kultur- und Bildungseinrichtungen. Das wird nicht auf Thüringen beschr?nkt bleiben.

Mit Blick auf die politische Kultur ist die interessante Frage, ob dieser Aufbruchsimpuls auch in den kleinst?dtisch-l?ndlichen R?umen Ostdeutschlands Wirkung entfaltet. Denn über die St?rke der AfD wird nicht in Leipzig oder K?ln entschieden, sondern dort. Da br?uchte es vielleicht mittelfristig Initiativen und Best?rkung, und sei es, dass St?dtepartnerschaften wiederbelebt werden und Patenschaften zwischen Vereinen, Kirchgemeinden und Kultureinrichtungen zwischen Ost und West oder zwischen Gro?- und Kleinstadt entstehen.

Gab es bereits Vergleichbares? Wo sehen Sie Parallelen, wo Neues?

Die Proteste erinnern sehr an das 2018 gegründete sogenannte ?Unteilbar“-Bündnis. Verschiedenste politische Initiativen, aber auch Gewerkschaften, hatte sich dort für Demonstrationen für Solidarit?t und gegen Ausgrenzung zusammengeschlossen und weit über 100.000 Menschen in Berlin mobilisiert und sp?ter Zehntausende in Dresden. Neu ist allerdings Masse, Kurzfristigkeit und vor allem die rasche Ausbreitung der aktuellen Proteste. Und sicherlich auch, dass sie vor dem Horizont dieses Wahljahres stattfinden und einem Gefühl, dass durch die Entwicklungen wirklich etwas auf dem Spiel steht.

Welche Menschen gehen auf die Stra?e, welche k?nnten hinzukommen?

Im Moment zeichnet sich ab, dass die Breite der Proteste wirklich gro? ist. Eine Bewegung der Vielen, die sowohl zivilgesellschaftlich Engagierte einschlie?t als auch Teilnehmer, die mindestens schon lange nicht mehr demonstriert haben, manche vielleicht das erste Mal.  Zivilgesellschaftlich ganz breite Bündnisse in den einzelnen St?dten brauchen zudem eigentlich Vorlaufzeit, um zusammenzufinden. Deshalb ist damit zu rechnen, dass die Proteste auch noch breiter und vielf?ltiger werden.

Welche Ziele erkennen Sie? Was k?nnen diese Demos bewirken?

Ganz aktuell sind es vor allem Emp?rungs- und Betroffenheitsmobilisierungen unter dem Eindruck der jüngsten Enthüllungen. Sie signalisieren aber auch, nicht hinzunehmen, dass die Grundlagen unseres Zusammenlebens angegriffen sind und damit auch der ganz grundlegende Kompass von Mitmenschlichkeit. Dabei darf man au?erdem nicht untersch?tzen, dass die Demonstrationen von Teilnehmenden als sehr ermutigend und best?rkend wahrgenommen werden – für das Gefühl, nicht allein zu sein mit der Sorge um unsere Demokratie.