Pressemitteilung 2023/141 vom

Die Vereinten Nationen würdigen mit einem j?hrlichen Aktionstag am 19. August humanit?re Helfer:innen und m?chten die Bedeutung humanit?rer Hilfe ins Bewusstsein rücken. Viele Millionen Menschen sind weltweit beispielsweise infolge von Naturkatastrophen, Kriegen und zuletzt auch durch die Corona-Pandemie auf humanit?re Hilfe angewiesen. Dr. Steffi Marung forscht an der Universit?t Leipzig unter anderem zur Geschichte der Entwicklungspolitik. Sie sagt: Die Spannung zwischen De- und Re-Politisierung humanit?rer Hilfe hat seit den 1970er Jahren zugenommen.

Frau Dr. Marung, unter ?humanit?rer Hilfe“ verstehen viele selbstlose Hilfe für Menschen in Not, um unter anderem das Ausbreiten von Krankheiten, Hunger und Wassermangel einzud?mmen beziehungswiese zu verhindern sowie Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, unabh?ngig von politischen Rahmenbedingungen. Inwiefern war in der Geschichte humanit?re Hilfe tats?chlich unpolitisch?

Dies ist eines der Dilemmata der humanit?ren Hilfe, auf die unter anderem der deutsche Historiker Johannes Paulmann hingewiesen hat, und das die Geschichte der humanit?ren Hilfe seit ihren Anf?ngen im 19. Jahrhundert pr?gt. Für die Rote Kreuz-Bewegung – einer der wichtigsten Ursprünge des internationalen humanit?ren Regimes – stand die Distanzierung von politischen Interessen im Zentrum. Auf diesem Versprechen des Unpolitischen beruhte auch lange der Erfolg dieser Bewegung. Doch genau in dem Moment, in dem das Internationale Komitee vom Roten Kreuz 1863 auf Initiative des Genfer Unternehmers Henri Dunant gegründet wurde – in Reaktion auf seine Erlebnisse auf den Schlachtfeldern von Solferino – schickten sich britische und franz?sische imperiale Eliten an, ihre kolonialen Projekte auch mit humanit?ren Argumenten abzusichern, als Teil ihrer ?Zivilisierungsmission“. Beispielsweise, indem sie die hygienischen Bedingungen in den St?dten der Kolonien zu verbessern suchten. Und wieder andere Akteure – wie europ?ische oder amerikanische Missionare – sahen in humanit?rer Hilfe ihre religi?se Pflicht jenseits staatlicher Interessen, aber eben auch ein Mittel zur Gewinnung von Gl?ubigen.

Diese Spannung zwischen der De- und Re-Politisierung von humanit?rer Hilfe ist also kein Spezifikum des Kalten Krieges oder der neuen globalen Konkurrenz heute. Gleichwohl hat die Professionalisierung und Ausweitung des ?Empire of Humanity“, wie es der amerikanische Politikwissenschaftler Michael Barnett kritisch apostrophierte, seit den 1970er enorm an Dynamik gewonnen. W?hrend des Kalten Krieges haben nicht nur die Staaten in den beiden Bl?cken versucht, sich mit humanit?rer Unterstützung als die bessere H?lfte der Welt darzustellen, auch internationale Organisationen wie die Weltbank – von vielen als Instrument amerikanischer Au?enpolitik kritisiert – haben sich verst?rkt humanit?ren Problemen zugewandt. Die Weltbank unter Robert McNamara hat beispielsweise den Kampf gegen den Hunger in den Mittelpunkt gestellt, w?hrend die UN insgesamt zur wichtigsten Koordinatorin humanit?rer Hilfe weltweit wurde. Und es sind eine Vielzahl nichtstaatlicher Akteure auf die Bühne getreten – manchmal im wortw?rtlichen Sinne, wenn wir an die von Bob Geldof organisierten Live-Aid-Konzerte denken. Ziel des ersten dieser Konzerte 1985 war es, Spendengelder für die hungernden Menschen in ?thiopien zu sammeln – und es dauerte nicht lang, bis dieses Unternehmen in die Kritik geriet: als Medienspektakel, als ?humanitarian business“, aber auch, weil ?thiopien damals dem sozialistischen Lager zugerechnet wurde und das Regime der Derg im Westen als autorit?r und repressiv galt.

In Mitteleuropa verbinden viele humanit?re Hilfe mit mehr oder weniger selbstloser Entwicklungshilfe der ?ersten Welt“ für die ?dritte Welt“, vornehmlich in Afrika. H?lt diese Sicht der Realit?t stand? 

Die Geber k?nnen auch aus dem Globalen Süden kommen – und auch das nicht erst in jüngster Zeit, wie es uns die berühmten chinesischen Masken in Europa w?hrend der Corona-Pandemie vor Augen geführt haben, sondern auch hier wieder mit langer Tradition. Kubanische ?rzte beispielsweise sind seit den 1960er Jahren in vielen L?ndern des globalen Südens ein wichtiger Anker in kurz- und langfristigen Gesundheitskrisen, w?hrend der kubanische ?medical internationalism“ seit der kubanischen Revolution beeindruckende Ausma?e angenommen hat und sich auch in der Corona-Krise zeigte, als 53 ?rzte und Pflegepersonal dem Hilfeersuchen Italiens im M?rz 2020 folgten.

Jüngst ging es beim von Russland ausgerichteten Afrika-Gipfel auch um die Frage von Getreidelieferungen nach Afrika im Angesicht des Kriegs in der Ukraine und des ausgelaufenen russisch-ukrainischen Getreideabkommens. Russland hat nicht nur versprochen, für die ausfallenden Lieferungen durch die Ukraine einzuspringen, sondern sogar kostenlos Getreide zu liefern. Das ist sicherlich nur ein Beispiel von vermeintlich selbstloser Hilfe. Was steckt hinter solcher Art von Gro?zügigkeit?

Das ist ein besonders zynischer Ausdruck der Dialektik aus De- und Re-Politisierung humanit?rer Hilfe. Hier kann Geopolitik neue humanit?re Krisen provozieren und der Kampf um eine neue Weltordnung wird auf dem Rücken der vulnerabelsten Gruppen ausgetragen. Diese Art von Konkurrenz haben wir auch w?hrend der Corona-Pandemie gesehen, als China, Russland und westliche Staaten in ihrer Impf-Diplomatie epidemologische, humanit?re, geopolitische – und nicht zuletzt wirtschaftliche – Interessen miteinander verschr?nkten.

China beispielsweise war in der ersten H?lfte des 20. Jahrhunderts vor allem Empf?nger von humanit?rer und Entwicklungshilfe – und zwar aus ganz verschiedenen Richtungen. Insbesondere die USA und die Sowjetunion haben hier seit den 1930er Jahren ihre Konkurrenz ausgetragen. Seit den 1960er Jahren begann der chinesische Staat, humanit?re Hilfe im Globalen Süden zu leisten, auch als Abgrenzung sowohl zum Westen als auch zum Ostblock, nach dem chinesisch-sowjetischen Zerwürfnis Mitte der 1960er Jahre.

Viele Menschen teilen vermutlich die Beobachtung einer Welt in der Multi-Krise: Wir haben es nicht nur mit einer Vielzahl paralleler Notlagen und Herausforderungen zu tun, sondern sie sind oftmals eng verflochten. Dazu z?hlen Notsituationen, die durch die Klimakrise ausgel?st werden, ebenso wie die jüngsten und die kommenden Pandemien, Kriege in verschiedenen Teilen der Welt aber auch Naturkatastrophen. Für diese dringend notwendige Kooperationsf?higkeit ist zun?chst ein Verst?ndnis für die Dilemmata der humanit?ren Hilfe notwendig. Historische Einordnung kann da ebenso helfen wie der Blick auf und aus verschiedenen Weltregionen.

 

Dr. Steffi Marung ist Leiterin des Projekts ?Freie Radikale? Politische Mobilit?ten und postkoloniale Verr?umlichungsprozesse in der zweiten H?lfte des 20. Jahrhunderts“ am Sonderforschungsbereich 1199 ?Verr?umlichungsprozesse unter Globalisierungsbedingungen“ der Universit?t Leipzig. Sie ist zugleich am Forschungsvorhaben New Global Dynamics im Rahmen der zweiten Wettbewerbsphase der Exzellenzstrategie von Bund und L?ndern beteiligt.