Nachricht vom

Wir lassen in einer Reihe Wissenschaftler:innen der Universit?t Leipzig aus verschiedenen Fachrichtungen zu Themen aus Forschung und Lehre zum Nahost-Konflikt zu Wort kommen. Dr. Gilad Ben-Nun forscht am Global and European Studies Institute zu der Geschichte des internationalen Rechts, Migrationsstudien und jüdisch-muslimische Beziehungen. Im Interview spricht Ben-Nun unter anderem über Fehler der Hamas und der israelischen Regierung, die Rolle der Religionen sowie darüber, warum linke bis linksextreme Kr?fte weltweit Israel das Existenzrecht absprechen.

Herr Dr. Ben-Nun, Sie sprechen bei den Ereignissen seit dem 7. Oktober 2023 von drei Vers?umnissen im pal?stinensisch-israelischen milit?rischen Konflikt. Welche sind das? 

Die drei Vers?umnisse sind: ein Versagen der Menschlichkeit auf beiden Seiten, ein Versagen der Religion, oder besser gesagt: der religi?sen Auslegung, und vor allem ein kolossales Versagen der Führung auf beiden Seiten. Pal?stina/Israel ist die Heimat beider V?lker seit Menschengedenken. Verfolgte Juden, sei es in Odessa 1880, in Deutschland 1933, im Irak 1950 oder in ?thiopien 1984, konnten nur an einen Ort auf der Erde fliehen, den sie rechtm??ig ihr Zuhause nennen konnten – das Heilige Land. Tatsache ist, dass verfolgte Pal?stinenser, ob aus Syrien 2017, aus Kuwait 1991 oder heute im Jahr 2024, keinen anderen Ort haben, den sie rechtm??ig Heimat nennen k?nnen – au?er Pal?stina. 

Das Versagen der Menschlichkeit auf beiden Seiten betrifft den Delegitimierungsdiskurs, der sich in beiden Lagern immer mehr durchsetzt. In der Charta der Hamas steht, dass alle Juden Pal?stina verlassen müssen oder sterben. Und die rechtsextremen jüdisch-israelischen Siedler haben ihren einzigartigen und exklusiven Anspruch auf das heilige Land Israel. Pal?stinenser sollten, wenn es nach Bezalel Smotrich, Israels rechtsextremem Finanzminister geht, in die benachbarten arabischen L?nder auswandern. 

Die Existenz anderer in ihrem Heimatland zu delegitimieren ist in meinen Augen ein Versagen der Menschlichkeit. Und junge Demonstranten, die ?Vom Fluss bis zum Meer – Pal?stina soll frei sein“ an den Universit?ten in den USA und sogar in Deutschland rufen, begehen genau das gleiche ?bel der Delegitimierung.

Das Versagen der Religion (sowohl in Israel als auch in Pal?stina) liegt in der Unf?higkeit der religi?sen Führer, religi?se Toleranz zu üben – etwas, das den Nahen Osten jahrhundertelang auszeichnete, vor allem, als das christliche Dogma in der frühen Neuzeit aus dem Ruder lief.

Das dritte, und meiner Meinung nach schlimmste, Versagen ist das der aktuellen Führung. Ob Netanjahu oder Hamas' Sinwar: Beide Führer bringen nur Zerst?rung über ihr Volk – und das nur für ihre pers?nlichen Gewinne. 

Es hie? stets, der Nahe Osten sei ein Pulverfass. Wenn einer ein Streichholz zündet, kommt es zur Explosion. Ist das Handeln der Netanjahu-Regierung der (gescheiterte) Versuch, Feuer mit Feuer zu l?schen?

Die Menschen suchen nach einer ?guten Seite“ und einer ?b?sen Seite“. Im pal?stinensisch-israelischen Konflikt gibt es keine guten und schlechten Seiten. Es gibt einfach ?zwei schlechte Seiten“. Die Frage, wer für das Anzünden des Pulverfasses verantwortlich ist, beruht auf der meta-logischen Annahme, dass eine Seite ein gr??eres Interesse daran hat, es anzuzünden als die andere. Das ist hier einfach nicht der Fall. Beide haben die gleiche Verantwortung dafür.

Netanjahu hat diese Runde des Konflikts nicht ausgel?st. Die Hamas hat beschlossen, 1300 israelische M?nner, Frauen und Kinder zu vergewaltigen und zu t?ten. Und das in einem Gebiet, das international als rechtm??iges und souver?nes israelisches Territorium anerkannt ist, ohne jeden Zweifel.

Das eigentliche Problem ist eine Frage der Zeit und des Drucks. Wenn Konflikte über einen Zeitraum von 100 Jahren schwelen, entwickeln sie sich zu immer gr??eren Zyklen der Gewalt. Die Wut, die wir in Gaza und den umliegenden Kibbuzim beobachten konnten, rührt von der ?Nichts-zu-verlieren-Idee“ der Gazaner her. Diese von Demütigung gepr?gte Wut der Pal?stinenserinnen und Pal?stinenser schlug sich in der orchestrierten Massenvergewaltigungs- und T?tungskampagne am 7. Oktober 2023 nieder. Und dann kam die harte Rache Israels.

Das pal?stinensisch-israelische Pulverfass ist eigentlich ein zyklisches Gebilde. Hamas-Führer Sinwar kann ohne Netanjahu nicht überleben – und umgekehrt.

zur Vergr??erungsansicht des Bildes: Zu sehen ist eine Landkarte des Gaza-Streifens vom Oktober 2023. Eingezeichnet sind Krankenh?user, milit?rische Sperrzonen und die St?tten des Angriffs der Hamas-Terroristen in Israel.
Die Karte ist zuerst erschienen in: "Einsichten und Perspektiven", Bayerische Zeitschrift für Politik und Gesichte. Karte: Peter Palm, Berlin

Sie analysieren auch, wie es dazu gekommen ist, dass linke bis linksextreme Kr?fte auf der gesamten Welt Israel das Existenzrecht absprechen und Partei für die Hamas ergreifen. Wie ist es dazu gekommen?

In einem Interview mit dem bekannten britischen Fernsehjournalisten Piers Morgan behauptete der S?nger Roger Waters (ehemaliger S?nger von Pink Floyd) kürzlich, dass Israel Lügen über die Vergewaltigungskampagne der Hamas erfunden habe. Als er mit den UN-Berichten konfrontiert wurde, die die Vergewaltigungskampagne belegten, und mit den Antr?gen des Internationalen Strafgerichtshofs auf Haftbefehle gegen die Hamas-Führer aus eben diesem Grund, bestand Waters darauf, dass dies eine Erfindung sei. Die Philosophin Judith Butler, die ihre Karriere damit gemacht hat, das Recht der Frauen zu verteidigen, nicht sexuell essenzialisiert zu werden, stellte die gleiche Behauptung auf wie Roger Waters.

1968 war es der franz?sische kommunistische Intellektuelle Maxime Rodinson, der sich weigerte zu akzeptieren, dass das jüdische Volk irgendeine Beziehung zum Land Israel hat. Die Tatsache, dass diese Menschen Hebr?isch sprachen oder dass Pal?stina voller jüdischer Ausgrabungsst?tten ist, oder die Tatsache, dass es bei der Volksz?hlung im Osmanischen Reich im frühen 19. Jahrhundert eine eindeutige jüdische Bev?lkerungsmehrheit in Jerusalem gab – all diese Tatsachen wurden von Rodinson für bedeutungslos erkl?rt, da sie nicht in seine kommunistische Theorie passten.

In vielen F?llen wollen sowohl linke als auch rechte Menschen nicht mit den Fakten konfrontiert werden, da sie lieber an ihren Meinungen festhalten. Das Problem der Linken ist, dass sie, im Gegensatz zur Rechten, oft globale und universalistische Ansprüche erhebt. Rechtsextreme Faschisten scheren sich nicht wirklich um solche Ansprüche, solange sie ihr eigenes Revier für sich allein haben. Linksextremisten hingegen kleiden ihre antijüdischen und manchmal sogar antisemitischen Behauptungen nur allzu oft in ein pseudouniverselles, scheinbar ?objektivistisches“ Gewand. 

Die Hamas spricht Israel das Existenzrecht ab, Teile des israelischen Judentums sprechen Pal?stina das Existenzrecht ab. Warum?

Beide sind der Meinung, dass sie durch ihre Forderung nach ethnischer Exklusivit?t dem Anspruch auf die eigene Heimat mehr Geltung verschaffen.

Im viel beachteten ?The Oxford Handbook of Religion and Contemporary Migration“ wurde gerade mein Hauptbeitrag ver?ffentlicht. Darin betone ich, dass Migrant:innen nach jüdischem Recht die am meisten geschützte Kategorie in der Tora sind. Und selbst wenn rechtsextreme religi?se Juden glauben, dass das Land ausschlie?lich ihnen geh?rt, hatten sie die jüdische religi?se Pflicht, das Westjordanland zu annektieren und den Pal?stinensern dort die vollen israelischen Staatsbürgerrechte zu gew?hren. Genau das hat Israel mit den Pal?stinensern getan, die nach 1948 in Israel geblieben sind und bis 1966 unter Milit?rherrschaft standen, bis sie die israelische Staatsbürgerschaft erhielten. Wenn man wirklich so sehr an die Religion glaubt, dann ist sie kein Menu à la carte. Aber wenn man die Religion für die eigenen s?kularen, nationalistischen Emotionen missbraucht, dann verdreht man die eigene Religion, um sie dem exklusiven Nationalismus anzupassen. 

Interessanterweise zitiert eine islamistische Bewegung wie die Hamas in ihrer Charta (Art. 32) die ?Protokolle der ?ltesten von Zion“. Was hat eine islamistische Bewegung mit einem abscheulichen antisemitischen Text zu tun, der 1905 im zaristischen Russland verfasst wurde? Aber wenn man den Islam für die eigene nationalistische Agenda manipulieren will, ist alles erlaubt. 

Wenn man die Religion für die eigenen s?kularen, nationalistischen Emotionen missbraucht, dann verdreht man die eigene Religion, um sie dem exklusiven Nationalismus anzupassen.

Dr. Gilad Ben-Nun

Auffallend zurück halten sich, bis auf den Iran, die anderen arabischen Staaten in der Unterstützung der Hamas. Welche Positionen haben beispielsweise ?gypten, Jordanien oder Saudi-Arabien?

Diese Nachbarstaaten sind so ziemlich die einzigen ?verantwortungsbewussten Erwachsenen“ in der Region. Man kann gern auch Marokko zu dieser Liste der L?nder hinzufügen, die sich für das Bessere einsetzen. All diese Staaten sind, mit Ausnahme von ?gypten, dem Sitz der Arabischen Liga, ?scherifische K?nigreiche“, also K?nigreiche, die ihre k?nigliche Abstammung direkt auf den Propheten Muhammad zurückführen. Ich denke, diese Staaten empfinden ein echtes Verantwortungsgefühl und die Pflicht, die westasiatische Region zu verbessern. 

Und da es in dieser Region derzeit so wenig Hoffnung gibt, sind sie für mich die einzigen, die in irgendeiner Form für Optimismus sorgen.   

Was muss passieren, damit der kriegs?hnliche Zustand zwischen Hamas und Israel beigelegt wird?

Die einzige M?glichkeit ist, dass die internationale Gemeinschaft es schafft, beide Seiten zu einem Kompromiss zu bewegen. Die Situation erinnert mich stark an die Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren: Ohne den immensen Druck w?hrend des Dayton-Abkommens und sp?ter w?hrend des NATO-Einsatzes im Kosovo (1998-1999) h?tte es kein Ende der Gewalt gegeben.

Es braucht viel mehr Eingriffe von oben und harten Druck, um beide Seiten zu einem Kompromiss zu bewegen, denn keine der beiden Seiten handelt mehr mit einem ernsthaften Ma? an Vernunft. 

Dr. Gilad Ben-Nun forscht und lehrt am Global and European Studies Institute der Universit?t Leipzig und am Research Centre Global Dynamics (ReCentGlobe) zu der Geschichte des internationalen Rechts, Migrationsstudien und jüdisch-muslimische Beziehungen. Habilitiert und promoviert wurde er an der Universit?t Leipzig, sein Studium hat er an der Hebr?ischen Universit?t in Jerusalem abgeschlossen. 
 

?ber die aktuellen Entwicklungen im Nahostkonflikt schrieb er einen Gastbeitrag für die Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte ?Einsichten und Perspektiven“.