Pressemitteilung 2024/096 vom

Wissenschaftler:innen des Broad Institute of MIT and Harvard, der Harvard Medical School sowie der Universit?tsmedizin Leipzig haben in zwei voneinander unabh?ngigen Patientenkohorten gezeigt, unter welchen Umst?nden die Sequenzierung des gesamten Genoms Vorteile bei der Diagnose genetischer Erkrankungen bietet. Aufgrund ihrer breiten Datenbasis aus Forschung und aus klinischer Anwendung liefert die gemeinsam publizierte Studie wichtige Impulse für die diagnostische Praxis. Ihre Ergebnisse haben die Forscher:innen im renommierten The New England Journal of Medicine vorgestellt.

Genmutationen in der DNA des Menschen k?nnen dazu führen, dass Proteine für wichtige Funktionen im K?rper nicht korrekt gebildet werden. Das Ergebnis k?nnen schwere St?rungen sein, die zu Erkrankungen oder gar Behinderungen führen. Viele solcher Erkrankungen sind der Wissenschaft bereits bekannt und bestimmten Genen zuzuordnen. Um sie zu diagnostizieren, setzen ?rzt:innen standardm??ig das Verfahren der sogenannten Exom-Sequenzierung ein. Dabei werden Teile jener Abschnitte der menschlichen DNA analysiert, die unmittelbar für die korrekte Bildung von Proteinen zust?ndig sind. Dieser kodierende Teil, das Exom, macht nur etwa ein Prozent der gesamten DNA aus, ist aber besonders relevant. 

?Eine Exom-Analyse führt jedoch in zwei Dritteln der F?lle nicht zu einer Diagnose; dann stellt sich die Frage, was nun?“, sagt Prof. Dr. Rami Abou Jamra. Er ist Professor für Medizinische Genomik an der Universit?t Leipzig und leitet die Genetische Diagnostik am Institut für Humangenetik, Universit?tsklinikum Leipzig (UKL). ?Für die Betroffenen und ihre Familien bedeutet eine eindeutige Diagnose sehr viel: nicht nur die Best?tigung, dass die Krankheit nicht ihre eigene Schuld ist – sie ebnet auch den Weg für ?ffentliche Anerkennung und eine personalisierte Therapie, wo dies m?glich ist“, so der Arzt. 

Um die Vorteile einer vollst?ndigen Genom-Sequenzierung im Vergleich mit der Exom-Sequenzierung beurteilen zu k?nnen, untersuchten Wissenschaftler:innen des Broad Institute of MIT and Harvard sowie der Harvard Medical School in Boston 744 Familien. Hierbei handelt es sich um erkrankte Kinder und ihre Eltern, bei denen der Verdacht auf eine genetisch bedingte Erkrankung vorlag und bei denen eine Exom-Sequenzierung zum Teil keine Diagnose erm?glicht hatte. Das Institut für Humangenetik in Leipzig analysierte mittels Genom-Sequenzierung in einer unabh?ngigen Patientenkohorte 350 Familien, bei denen eine Exom-Sequenzierung kein Licht ins Dunkel gebracht hatte. Die ersten 78 F?lle flossen in die gemeinsame Studie mit den Bostoner Kolleg:innen ein. Von allen Familien wurde die komplette DNA, das sogenannte Genom, in Milliarden kleine Abschnitte zerschnitten und abgelesen, genannt short read sequencing. Die Daten werteten die Forscher:innen mittels bioinformatischer Programme und Algorithmen aus. 

?Im Vergleich zu einer Exom-Sequenzierung brachte die Genom-Sequenzierung in zus?tzlichen acht Prozent der F?lle Klarheit: Das ist relevant mehr“, erl?utert Prof. Dr. Rami Abou Jamra, der die Leipziger Studie leitete. ?Insbesondere, wenn eine krankheitsurs?chliche genetische Ver?nderung darin besteht, dass sehr kleine DNA-Abschnitte fehlen, unspezifische Sequenzen sich verl?ngern oder wenn die Ver?nderung gar nicht im kodierenden Teil liegt, hilft diese Methode entschieden weiter“, so der Mediziner. ?Bei der Exom-Sequenzierung werden die kodierenden Abschnitte im Labor aus der DNA herausgel?st und chemisch angereichert, und das führt leider zu einem Qualit?ts- und Informationsverlust“, erkl?rt der Forscher. Aber genau diese Informationen k?nnten entscheidende Hinweise enthalten. Zudem haben auch Genabschnitte au?erhalb des Exoms wichtige Funktionen, etwa zur Regulierung von Mechanismen, die die Proteinsynthese steuern. Diese Abschnitte werden mit einer Exom-Analyse gar nicht erfasst. Schlie?lich wollen die Forscher:innen durch den umfassenden Blick über das gesamte Genom neue Krankheitsbilder und -mechanismen identifizieren.

N?chstes Ziel: Mehr Genome ablesen, "mit noch aufschlussreicherer Technik"

 ?Unsere Daten legen nahe, schneller zur Genom-Sequenzierung zu greifen, gerade wenn eine Exom-Sequenzierung keine Klarheit gebracht hat“, sagt Prof. Dr. Rami Abou Jamra. ?In der Vergangenheit gab es in der Fachliteratur Unklarheit, wann eine Genom-Sequenzierung geboten ist. Die ermittelte gro?e Datenbasis zeigt nun auch dank des Leipziger Beitrags, dass die Ergebnisse durchaus in der klinischen Anwendung tragf?hig sind“, sagt der Wissenschaftler.

Ein weiterer Vorteil der Genom-Sequenzierung, obwohl diese derzeit noch etwa zweieinhalbmal so teuer ist wie eine Exom-Sequenzierung, ist ein langfristiger: Liegen die Daten einmal vor, sei es einfach, diese sp?ter noch einmal auf neue Erkenntnisse zu überprüfen, da weltweit neue krankheitsrelevante Gen-Mutationen entdeckt und dokumentiert werden, wie Prof. Dr. Rami Abou Jamra betont. 

Und was kommt als N?chstes? ?Wir werden mehr Genome ablesen, und das alles mit einer noch aufschlussreicheren Technik, die sich long read sequencing nennt. Sie erlaubt das Ablesen l?ngerer Abschnitte an einem Stück“, so Prof. Dr.  Abou Jamra erfreut. ?Damit wollen wir alle genetisch bedingten Krankheiten entschlüsseln.“

Originalpublikation in The New England Journal of Medicine:
"Genome Sequencing for Diagnosing Rare Diseases", DOI: 10.1056/NEJMoa2314761