Pressemitteilung 2022/124 vom

Ursachen für Intelligenzminderung oder Epilepsie bleiben bei mehr als 50 Prozent der Betroffenen bislang ungekl?rt. Forschende der Universit?tsmedizin Leipzig haben mit internationaler Unterstützung zwei Gene mit Mutationen entdeckt, die Ursachen für neurologische Entwicklungsst?rungen bei Kindern sind. Die Ergebnisse wurden nun in Fachjournalen ver?ffentlicht.

Humangenetiker:innen der Leipziger Universit?tsmedizin begeben sich bei Entwicklungsst?rungen von Kindern immer wieder auf eine komplizierte Suche, weil die Ursache oft nicht sofort identifizierbar ist. Je früher etwa eine Epilepsie oder eine geistige Behinderung beginnen, desto wahrscheinlicher steckt eine genetische Ursache dahinter. Bei der Ursachenforschung schauen sich die Expert:innen die komplette codierende Sequenz des menschlichen Erbguts der Erkrankten an. In etwa 40 bis 50 Prozent der F?lle k?nnen sie eine Diagnose abgeben.

Bleibt die Ursache ungekl?rt, k?nnen die Eltern des betroffenen Kindes im Rahmen eines Forschungsprogramms sequenziert werden. Das Ergebnis wird mit der codierten Sequenz des kleinen Patienten verglichen und geprüft, ob genetische Ver?nderungen auffindbar sind, die beim Kind neu entstanden sind. Oder ob es erbliche Ursachen gibt und die Eltern ihre Anlage an den Nachwuchs weitergegeben haben. Es ist aber auch m?glich, dass es eine Ver?nderung in einem Gen gibt, das bisher noch nicht mit einem Krankheitsbild verknüpft ist.

Von der klinischen Entdeckung über die wissenschaftliche Datenbank

Gleich zwei F?lle von Entwicklungsst?rungen bei Kindern mit unbekannter Ursache sind in der Leipziger Universit?tsmedizin kürzlich identifiziert und gemeinsam mit internationaler wissenschaftlicher Expertise erforscht worden. Im ersten Fall wurden die Eltern sowie ein schwerkrankes Kind mit früh einsetzender Epilepsie, Entwicklungsst?rungen und kleinem Kopfumfang sequenziert. Dabei fanden die Forschenden um Studienleiter Dr. Konrad Platzer zwei genetische Ver?nderungen im sogenannten CHKA-Gen. Bis dahin war nicht bekannt, dass dieses Gen eine Ursache für Erkrankungen ist. ?ber die Datenbank ?GeneMatcher“, die Wissenschaftler:innen weltweit nutzen um sich auszutauschen, fanden die Leipziger Mediziner:innen international fünf weitere Erkrankte aus vier Familien mit ?hnlicher Symptomatik und dem CHKA-Gen.

Forscher:innen der Universit?t Halifax aus Kanada halfen, den Zusammenhang zwischen der Ver?nderung im Gen und der Krankheit nachzuweisen. Die Experimente best?tigten, dass die Enzymkaskade durch die Mutationen im Gen eingeschr?nkt wird und wichtige Membranbausteine deshalb nicht gebaut werden k?nnen. Dadurch haben die Patienten alle eine ?hnliche Symptomatik – schwere Entwicklungsst?rung, Epilepsie, Bewegungsst?rung und einen zu kleinen Kopf. ?Das CHKA-Gen geh?rt zum Kennedy-Enzym-Pathway. Hierbei handelt es sich um einen von Enzymen gesteuerten Ablauf, in dem Schritt für Schritt ein bestimmter Membranbaustein neu gebaut wird. In diesem Pathway gibt es einige Gene, die bereits unter anderem mit Epilepsie assoziiert sind. Das hei?t es ist naheliegend, dass ein weiteres Gen in so einem Signalweg einen ?hnlichen Ph?notyp ausl?st. Allerdings h?tten wir das ohne die Hilfe aus Halifax nicht nachweisen k?nnen“, erkl?rt Dr. Konrad Platzer, Facharzt am Institut für Humangenetik des Universit?tsklinikums Leipzig.

Neue Ursache für Entwicklungsst?rung 

Leipziger Human-Genetiker:innen um Studienleiter Dr. Henry Oppermann haben den zweiten Fall einer Entwicklungsst?rung erfolgreich gel?st. Sie nahmen einen jungen Patienten in die Studie ?Identifizierung und Charakterisierung von Genver?nderungen bei seltenen Erkrankungen“ auf und konnten eine Mutation im ATP2B1-Gen als potentielle Ursache identifizieren. Dank internationaler Kooperationen mit den Niederlanden, Neuseeland, Kanada, Israel, Italien, USA und Frankreich fanden sich über die Datenbank ?GeneMatcher“ weitere zw?lf Probanden mit einer Mutation im ATP2B1-Gen und einer Entwicklungsverz?gerung.

Zusammen mit der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Michael Schaefer, Direktor des Rudolf-Boehm-Instituts für Pharmakologie und Toxikologie der Medizinischen Fakult?t und Prof. Frank Gaunitz, Klinik für Neurochirurgie, wurde der Einfluss der Mutationen auf die Funktion von ATP2B1 untersucht. Das Gen kodiert eine Kalziumpumpe, welche Kalzium-Ionen aus der Zelle heraustransportiert. Kalzium ist ein wichtiges Signalmolekül für Neuronen, da dieses unter anderem die Freisetzung von Neurotransmittern und synaptische ?bertragungen steuert. Somit ist es wichtig für Lernprozesse und die Speicherung von Sinneswahrnehmungen im Ged?chtnis. Die Experimente zeigten, dass die Mutationen der Probanden tats?chlich die Pumpleistung von ATP2B1 beeintr?chtigen und somit urs?chlich für die Entwicklungsverz?gerung sind. ?Zusammenfassend konnten wir den Leipziger Fall endlich l?sen und Mutationen im ATP2B1-Gen als neue Ursache für eine Entwicklungsverz?gerung erstmalig beschreiben“, sagt Dr. Oppermann.

Die Studienerkenntnisse aus Leipzig haben einen praktischen Nutzen für Mediziner:innen auf der ganzen Welt. Die neuen genetischen Varianten, die als Ursachen von Entwicklungsst?rungen identifiziert worden sind, wurden unter anderem in der internationalen Datenbank Clinvar hinterlegt. Dort k?nnen alle ?rzt:innen prüfen, ob ihre Patient:innen vergleichbare Ver?nderungen im Erbgut haben und die Symptome der Erkrankung dazu passen.

Beide Forschungsarbeiten wurden am Institut für Humangenetik in Leipzig im Zusammenhang mit Doktorarbeiten erstellt: zum einen von Chiara Kl?ckner (CHKA) und zum anderen von Jacob Rahimi (ATP2B1). Beide werden damit nach einer Verteidigung der Ergebnisse vor einer Fachkommission der Medizinischen Fakult?t Ihren medizinischen Doktortitel erhalten.  

Publikationen:

Originaltitel in Brain: Bi-allelic variants in CHKA cause a neurodevelopmental disorder with epilepsy and microcephaly. DOI: https://doi.org/10.1093/brain/awac074

Originaltitel in AJGH: ?De novo variants in ATP2B1 lead to neurodevelopmental delay”, DOI: 10.1016/j.ajhg.2022.03.009