Pressemitteilung 2024/104 vom

Forschende verschiedener universit?rer Einrichtungen haben in einer gemeinsamen Studie eine zunehmende Polarisierung und Radikalisierung der deutschen Bev?lkerung festgestellt. Dies sei bei den Reaktionen auf die Covid-19-Ma?nahmen, dem Umgang mit dem Klimawandel, der Haltung zu Russland oder zuletzt bei der Eskalation des Nahost-Konfliktes zu spüren gewesen. In den Auseinandersetzungen scheine es immer mehr um ?gut“ und ?b?se“ zu gehen als um Fakten, berichteten die Wissenschaftler:innen am Donnerstag (27.6.2024) bei einer Konferenz an der Universit?t Leipzig zur Vorstellung der zentralen Ergebnisse des vierj?hrigen Verbundprojekts ?Radikaler Islam versus radikaler Anti-Islam“ (RIRA).

?Die Radikalisierungsprozesse finden h?ufig mit Bezug auf eine als feindlich markierte Gegengruppe statt. Die Etablierung antidemokratischer Einstellungen in der Gesellschaft befeuert die Radikalisierungsprozesse zus?tzlich“, erkl?rt die Leiterin des Projekts RIRA, Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Susanne Pickel von der Universit?t Duisburg-Essen. Diese antidemokratischen Radikalisierungsprozesse beginnen bereits bei den politischen und sozialen Einstellungen Jugendlicher, hei?t es in der Studie.

Grundlage dafür waren eine gesamtdeutsche Bev?lkerungsbefragung von 2.505 Frauen und M?nnern, eine Befragung unter 607 Muslim:innen, Gruppendiskussionen, eine Schulbuchanalyse, eine quantitative Befragung von 405 Lehrer:innen sowie Interviews mit Inhaftierten. Unter Muslim:innen begünstigen der Studie zufolge ein religi?ser Fundamentalismus, der bei 37 Prozent der Befragten vorzufinden ist, sowie ein tradierter Antisemitismus (39 Prozent), aber auch Diskriminierungserfahrungen von Muslim:innen (55 Prozent) eine Radikalisierung. ?Muslim:innen reagieren auf Entwicklungen im rechten Spektrum und sehen sich als Opfer der deutschen Gesellschaft“, beschreibt Religionssoziologe Prof. Dr. Gert Pickel von der Universit?t Leipzig ein weiteres Ergebnis der Studie. Er leitete das Teilprojekt: Bedrohungsgefühle als Faktoren anti-islamischer Radikalisierung und ihre p?dagogische Bearbeitung" von RIRA.

N?hrboden für eine Radikalisierung zum Rechtsextremismus bei Nicht-Muslim:innen sei die Zuschreibung zum Islamismus bei 44 Prozent der Befragten und eine Angst vor Muslim:innen bei der H?lfte der Befragten gewesen ?Es zeigt sich deutlich, dass Radikalisierungsprozesse nicht erst beginnen, wenn Anschl?ge stattfinden, die Saat wird bereits weitaus früher gelegt und geht dann in vielf?ltiger Weise als Ablehnung gegenüber Muslimen auf. Gerade wenn man sich von einer bestimmten Gruppe bedroht fühlt, w?chst die Gefahr der Radikalisierung“, so Gert Pickel

Als genauso wichtig erweisen sich allerdings Diskriminierungserfahrungen von Muslim:innen in Deutschland: 55 Prozent der Befragten wurden bereits mindestens einmal aufgrund ihrer Religion oder Herkunft diskriminiert und 44 Prozent leben in der Sorge, diskriminiert zu werden. ?Erfahrungen von Diskriminierung und Rassismus k?nnen in Deutschland eine Radikalisierung in Richtung Islamismus f?rdern. Die Radikalisierung wird durch Bedrohungserfahrungen, radikalisierte soziale Netzwerke und Narrative der Gewaltakzeptanz bef?rdert. Ein integratives soziales Umfeld kann hingegen Radikalisierungsprozesse unterbrechen“, sagt Susanne Pickel. Dies best?tigten auch Interviews mit Islamisten, die sich im Strafvollzug befinden. 

Die Verfasser:innen der Studie sehen es als problematisch an, dass nach Angaben von Lehrer:innen 58 Prozent der Schüler:innen keine Kenntnisse über Demokratie besitzen. Es sei aber auch ?ausgesprochen gef?hrlich“, wenn bereits in Schulbüchern die Fremdheit und potenzielle Gef?hrlichkeit von Muslim:innen betont werde. In der Befragung unter Lehrkr?ften gehen 65 Prozent davon aus, dass ihre Schüler:innen islamistische, aber auch rechtsextreme Haltungen aus dem Elternhaus mitbringen. 

Wie die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchungen auch zeigen, handelt es sich allerdings nie um einen automatischen Prozess, der zwangsl?ufig in eine Gewaltanwendung mündet. Vielmehr gebe es auf allen Ebenen des Radikalisierungsprozesses die M?glichkeit zur Intervention und Pr?vention, die bereits bei politischen und sozialen Einstellungen beginnen müssen. Im Forschungsprojekt wurden Demokratiestunden an Schulen etabliert, die für eine Deeskalation von potenziellen Radikalisierungsans?tzen sorgen. Ein differenziertes, integratives Lehrmaterial mit pers?nlicher Ansprache der Schüler:innen, zum Beispiel Podcasts über Muslime in Ostdeutschland, trage dazu bei, eine Radikalisierung im optimalen Fall gar nicht erst entstehen zu lassen. 

Zu den Dynamiken und Ursachen der gegenw?rtigen Radikalisierungsprozesse mit Bezug auf den Islam forschten in den vergangenen vier Jahren acht Teilprojekte des Forschungsverbundes ?Radikaler Islam versus radikaler Anti-Islam“ an vier deutschen Universit?ten. Dem Projektverbund geh?ren auch Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan von der Universit?t Duisburg-Essen, Prof. Dr. Oliver Decker, Prof. Dr. Immo Fritsche und Prof. Dr. Frank Lütze von der Universit?t Leipzig, Prof. Dr. Michael Kiefer von der Universit?t Osnabrück sowie Prof. Dr. Riem Spielhaus vom Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Gerhard-Eckert-Institut Braunschweig an. Das Forschungsprojekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gef?rdert.

 

Weitere Informationen:

Das Projekt Radikaler Islam versus radikaler Anti-Islam (RIRA)