Pressemitteilung 2014/292 vom

Nach der "Arabellion": Arabische Jugendliche finden neue Formen der Selbstbehauptung und des politischen Widerstands, die den Alltag in St?dten Nordafrikas und des Nahen Ostens pr?gen. Was treibt die jungen Leute um, wie trotzen sie staatlichen Domestikationsversuchen? Ein Sammelband Leipziger und Marburger Sozialwissenschaftler bietet einen differenzierten Blick auf Jugendbewegungen von Kairo und Ramallah bis Algier und leuchtet das breite Spektrum des Jugendlichseins aus: "Jugendbewegungen. St?dtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt", herausgegen von J?rg Gertel und Rachid Ouaissa.

Seit dem "Arabischen Frühling" erleben fast alle L?nder zwischen Marokko und Syrien lokale Proteste, spontane Aufst?nde und Massendemonstrationen. Die arabischen Gro?st?dte sind Orte, an denen junge Leute Widerstand und Protest gegen Ungerechtigkeit, Willkür, Armut und Ausgrenzung sichtbar machen. Denn, wie die Herausgeber in ihrem einleitenden Beitrag verdeutlichen, "gerade die Metropolen und Megacities des globalen Südens wie Kairo oder Istanbul zeichnen sich durch Problemballungen auf engstem Raum aus. Ungleichheit und Ausgrenzung werden auch für Jugendliche immer sichtbarer und erlebbarer."

Aus welchen sozio?konomischen Bedingungen heraus agieren Jugendliche, wie verorten sie sich sozial und kulturell? Welche Handlungsspielr?ume k?nnen sie sich trotz aller wirtschaftlichen Zw?nge und staatlicher Kontrolle im Alltag erk?mpfen? Wie ver?ndern Widerstand und Protest politische Ordnungen und Gesellschafts-entwürfe? Die Beitr?ge des Sammelbandes beschr?nken sich in ihren Antworten nicht allein auf die Massenbewegungen der jüngsten Vergangenheit. Widerstand, so formulieren die Herausgeber, ist weit mehr als nur das Zusammenkommen in gro?en Kundgebungen: "Alltag kann ohne Widerstand auskommen, doch Widerstand kann allt?glich werden."

Ouaissa und Gertel sowie die weiteren Autoren versammeln Stimmen von Jugendlichen, die bisher kaum geh?rt wurden. Der erste Teil des Bandes führt konzeptionell in die Themen Jugend, Widerstand und Stadtentwicklung ein. Darauf folgen Fallstudien: im zweiten Teil zu Nordafrika und im dritten Teil zum Nahen Osten. Diese Studien beruhen auf jahrelangen Feldforschungen und intensiven Gespr?chen vor Ort.

So nimmt J?rg Gertel die Ursachen von Protestaktionen in Nordafrika und dem Nahen Osten in den Blick. Sie liegen, so argumentiert der Sozialgeograph, in neoliberaler Globalisierung, einer dramatischen Privatisierungswelle sowie wachsender Armut und Schutzlosigkeit.

Neben der Gentrifizierung der St?dte und der Marginalisierung gro?er Teile der Bev?lkerung kommt es aber auch zunehmend zur Aneignung des ?ffentlichen Raums durch entrechtete und benachteiligte St?dter, wie Asef Bayat in seinem Beitrag ausführt: Stra?en, ?ffentliche Pl?tze und Grünanlagen werden als R?ume für Arbeit, Freizeit und Gemeinschaftsleben genutzt. Nicht durch konzertierte politische Mobilisierung, sondern durch informelle Alltagspraktiken behaupten die Einwohner ihr Recht auf die Stadt und treiben die Eliten in den Schutz sicherheitsüberwachter und privatisierter Rückzugsr?ume.

Wie sind die empirischen Befunde zu bewerten? Jugendliche in der arabischen Welt, so schreiben die Herausgeber, "sind Akteure des Widerstands". Sie sind besser gebildet als jemals zuvor, verfügen über eine Medienkompetenz wie keine andere soziale Gruppe und sind durch ihre wachsenden Englisch-Kenntnisse f?hig, sich mit Ausl?ndern zu vernetzen. Die junge Generation entwickle neue, auch subversive Partizipations-, Mobilisierungs-und Protestformen. "Einerseits sind es individuelle, private Tr?ume und hedonistische Lebensentwürfe, um die Jugendliche ringen", konstatieren Ouaissa und Gertel. "Andererseits scheint die Jugend auch kollektiven Idealen verp?ichtet zu sein."

Professor Dr. J?rg Gertel studierte Geographie, Islamwissenschaft und Ethnologie in Marburg, Freiburg und Damaskus und hat an der Universit?t Leipzig den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie und Globalisierungsforschung inne. Er war Sprecher des Sonderforschungsbereichs "Differenz und Integration" (2007-2013).

Professor Dr. Rachid Ouaissa lehrt Politik des Nahen und Mittleren Ostens am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) der Philipps-Universit?t, das die hessische Orientforschung bündelt. Er leitet ein interdisziplin?res Forschungsnetzwerk zur Neubewertung von Geschichte und Gegenwart des Mittleren Ostens und Nordafrikas, das vom Bundesforschungsministerium finanziert wird.

Bibliografische Angaben:
J?rg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.): Jugendbewegungen. St?dtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt, Bielefeld (transcript) 2014, ISBN 978-3-8376-2130-3, 400 Seiten, 19,99 Euro