Pressemitteilung 2021/150 vom

Als der Chemiker Dr. Christoph Selg fast t?glich zwischen zwei unterschiedlichen Laboren an der Universit?t Leipzig pendelte, verknüpfte er auf diese Weise auch zwei Wissenschaftsdisziplinen. Indem er und seine Kolleginnen und Kollegen die Pharmazie und die Anorganische Chemie zusammenbrachten, ist es ihnen gelungen, eine Gruppe vielversprechender potenzieller Wirkstoffe für die Krebstherapie zu entwickeln: die sogenannten ?Borinostats“.

Zahlreiche Krebstherapeutika beruhen auf der gezielten Bek?mpfung kranken Gewebes, ohne dabei gesundes Gewebe in Mitleidenschaft zu ziehen. Eine probate Methode, um zwischen Gut und B?se zu unterscheiden, ist die gezielte Blockade von Enzymen, die in Krebszellen überm??ig stark produziert werden. Der Stoffwechsel der Zelle wird dadurch so sehr gest?rt, dass der kontrollierte Zelltod eingeleitet wird und die Krebszelle schlie?lich abstirbt, wohingegen gesunde Zellen weitgehend unbehelligt bleiben. 

Eine Enzymfamilie, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gezielt blockieren k?nnen m?chten, ist die der 18 Histondeacetylasen (HDACs), denn sie spielt bei einigen Krebserkrankungen, aber auch bei HIV, Entzündungs- und Immunerkrankungen sowie bei neurodegenerativen und parasit?ren Erkrankungen eine zentrale Rolle. Die Forscherinnen und Forscher arbeiten daran, nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip Wirkstoffe zu entwickeln, die exklusiv die Enzymtasche des gewünschten Enzyms blockieren, ohne aber die Funktionen anderer Enzyme zu beeintr?chtigen. Die gesuchten ?Schlüssel“ funktionieren als sogenannte Inhibitoren und werden im Fall der Histondeacetylasen als HDACi bezeichnet.

Ziel: Anorganische Bausteine in die Entwicklung der Wirkstoffe integrieren

Am Institut für Pharmazie der Universit?t Leipzig forschte die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Finn K. Hansen (bis Sommer 2020 Juniorprofessor für Pharmazeutische und Medizinische Chemie an der Universit?t Leipzig; seit Kurzem Professor für Pharmazeutische Chemie an der Universit?t Bonn) seit einigen Jahren an solchen HDACi. ?blicherweise greifen Forscherinnen und Forscher dabei auf die haupts?chlich Kohlenstoff-basierten Synthesebausteine der Organischen Chemie zurück. Das Problem: Die Auswahl an m?glichen Bausteinen ist begrenzt. Um die Bibliothek zu erweitern, schloss sich Hansens Gruppe deshalb mit der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Dr. h.c. Evamarie Hey-Hawkins am Institut für Anorganische Chemie zusammen, die das Knowhow und die Infrastruktur zur Verfügung stellte, um nun auch anorganische Bor-basierte Bausteine in die Entwicklung von HDACi zu integrieren. 

Nachwuchswissenschaftler Dr. Christoph Selg setzte die Synthesearbeiten um und pendelte dafür für einige Monate zwischen den Laboren der beiden Arbeitsgruppen. ?Bor-Verbindungen sind oft sehr luft- und wasserempfindlich, deshalb mussten die Synthesen der anorganischen Bausteine unter einer Schutzgas-Atmosph?re in speziellen Apparaturen durchgeführt werden“, erkl?rt er. ?Die Labore der Hey-Hawkins-Gruppe sind auf diese sogenannte Schlenk-Technik spezialisiert. Sicher verpackt wurden die Verbindungen dann zur Synthese der fertigen Wirkstoffe ins Institut für Wirkstoffentwicklung (IWE) transportiert.“ 

Das Ergebnis: Die neuen Wirkstoff-Moleküle bestanden nun zur einen H?lfte aus herk?mmlichen organischen HDACi-Wirkstoffgerüsten und zur anderen H?lfte aus anorganischen Bor-Clustern (Carboranen). Die Leipziger Forscherinnen und Forscher tauften sie ?Borinostats“.

Wirksam und pr?zise steuerbar

In umfangreichen in-vitro-Tests am Institut für Wirkstoffentwicklung der Universit?t Leipzig, am Pharmazeutischen Institut der Universit?t Bonn und an der Klinik für Kinder-Onkologie, -H?matologie und Klinische Immunologie des Universit?tsklinikums Düsseldorf stellte sich heraus, dass die neuen Verbindungen nicht nur sehr wirksam waren, sondern sich auch besonders pr?zise auf das Enzym Histondeacetylase 6 steuern lie?en, das bei der Behandlung von Krebs besonders relevant ist.

?Mit diesem neuen Konzept stehen nun ?Schlüssel und Generalschlüssel‘ für HDACs zur Verfügung. Unsere ?Borinostats‘ stellen ein vielversprechendes Fundament für weitere anorganisch-pharmazeutische kooperative Forschungsans?tze dar“, so Selg. Die Ergebnisse zu den neuen Wirkstoffen wurden kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift Chemical Science publiziert. 

 

Originaltitel der Ver?ffentlichung in Chemical Science:
“Borinostats: solid-phase synthesis of carborane-capped histone deacetylase inhibitors with a tailor-made selectivity profile”, doi.org/10.1039/d1sc02268g