Pressemitteilung 2023/118 vom

Die Multiple Sklerose (MS) betrifft weltweit Millionen von Menschen und bisher ist keine Heilung dieser Erkrankung des zentralen Nervensystems m?glich. Die Besch?digung von Nervenfasern, auch Axone genannt, ist verantwortlich für die Erkrankungsschwere von Patient:innen und den Verlauf der MS. Die Schutzschicht der Axone, das Myelin, spielt dabei eine Schlüsselrolle. Forschende der Universit?t Leipzig und des Max-Planck-Instituts für multidisziplin?re Naturwissenschaften in G?ttingen haben nun herausgefunden, dass das bisher als schützend angesehene Myelin das ?berleben der Axone sogar gef?hrden kann. Die Erkenntnisse wurden aktuell im renommierten Fachjournal "Nature Neuroscience" publiziert und er?ffnen einen neuen Blickwinkel für zukünftige Forschungsans?tze und therapeutische M?glichkeiten der Erkrankung.

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine schwerwiegende neurologische Erkrankung mit zumeist bleibender Behinderung. Weltweit sind etwa 2,9 Millionen Menschen betroffen, 240.000 allein in Deutschland. Die genaue Ursache der Erkrankung ist bisher nicht gekl?rt, aber ein zentrales Merkmal ist ein durch Autoimmunprozesse ausgel?ster Verlust der isolierenden Schutzschicht von Axonen, den neuronalen Verbindungen im zentralen Nervensystem. Die als Myelin bezeichnete Umhüllung der Axone wird durch hochspezialisierte Gliazellen, die Oligodendrozyten, ausgebildet und erm?glicht die schnelle Weiterleitung elektrischer Nervenimpulse. Bisher geht man bei der MS davon aus, dass Oligodendrozyten und Myelin durch Immunzellen abgebaut werden, und die dann schutzlosen Axone aufgrund weiterer lokaler Entzündungsprozesse irreversible Sch?den davontragen. Der Verlust von Axonen spielt letztlich eine entscheidende Rolle für die Erkrankungsschwere von Patient:innen und den Verlauf der MS.

Aktuelle Forschungsergebnisse eines Teams aus Wissenschaftler:innen der Universit?t Leipzig und des Max-Planck-Instituts für multidisziplin?re Naturwissenschaften in G?ttingen deuten nun darauf hin, dass sich das Verst?ndnis der Krankheit an dieser Stelle ?ndern muss. In der aktuellen Studie konnten die Forschungsgruppen zeigen, dass das bisher als schützend angesehene Myelin, das ?berleben der Axone sogar gef?hrden kann. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Myelinscheiden durch Immunzellen angegriffen wurden, aber weiterhin die Axone umhüllen und damit von der Au?enwelt isolieren. Oligodendrozyten sind n?mlich nicht nur für die Bildung des Myelins zust?ndig. Sie leisten auch wichtige Unterstützungsfunktionen für den Energiestoffwechsel der Axone. Insbesondere myelinisierte Axone sind stark von metabolischer Unterstützung abh?ngig, da sie kaum eigenen Zugang zu N?hrstoffen haben. Für die Unterstützung myelinisierter Axone durch eine Myelinscheide hindurch ist es erforderlich, dass die Architektur des Myelins intakt ist, einschlie?lich der engen Kommunikationskan?le zwischen Oligodendrozyten und Axonen.

Gewebeproben mit Elektronenmikroskopie untersucht

?Wenn Oligodendrozyten einer akuten entzündlichen Umgebung ausgesetzt sind, k?nnten sie ihre unterstützende Funktion für die Nervenfasern verlieren und das Myelin wird zu einer Bedrohung für das ?berleben der Nervenfasern“, beschreibt Prof. Klaus-Armin Nave vom Max-Planck-Institut für multidisziplin?re Naturwissenschaften in G?ttingen die eingangs aufgestellte Forschungshypothese des Teams. Um ihre Vermutung zu überprüfen, untersuchten die Forschenden Gewebeproben von Patient:innen mit Multipler Sklerose und zus?tzlich verschiedene Mausmodelle dieser Krankheit, um den Autoimmunangriff auf das Myelin experimentell nachzustellen. Dabei konnten sie erstmals in den Gewebeproben der Erkrankten mit Elektronenmikroskopie nachweisen, dass die irreversible Sch?digung fast immer in den noch mit Myelin ummantelten Axonen auftritt (s. Abbildung). Umgekehrt konnten die Wissenschaftler:innen mit Hilfe von genetisch ver?nderten Mausmodellen zeigen, dass ?nackte“ Axone in einer akuten entzündlichen Region des zentralen Nervensystems besser vor der Degeneration geschützt sind.  

?Indem wir das vorherrschende Bild von Myelin als ausschlie?lich schützende Struktur hinterfragen, k?nnen wir ein tieferes Verst?ndnis der Krankheit gewinnen und m?glicherweise neue therapeutische Strategien entwickeln, um die Funktionalit?t der Nervenfasern zu bewahren", erkl?rt Prof. Ruth Stassart, Paul-Flechsig-Institut – Zentrum für Neuropathologie und Hirnforschung, Institut für Neuropathologie am Universit?tsklinikum Leipzig. ?Anstatt das gesch?digte Myelin zu erhalten k?nnte es therapeutisch sogar besser sein, den schnellen Abbau zu f?rdern und die Neubildung von funktionsf?higem Myelin zu unterstützen“, erg?nzt Dr. Robert Fledrich, Wissenschaftler am Institut für Anatomie der Universit?t Leipzig. 

Originalpublikation in Nature Neuroscience:

"Myelin insulation as a risk factor for axonal degeneration in autoimmune demyelinating disease", Doi: 10.1038/s41593-023-01366-9