Pressemitteilung 2023/153 vom

Vom 14. bis 16. September 2023 findet in Leipzig die diesj?hrige Jahreskonferenz des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) statt. Drei Tage lang diskutieren dort mehr als 150 Teilnehmer:innen das Konzept des gesellschaftlichen Zusammenhalts aus globaler und historisch vergleichender Perspektive. Im Gespr?ch erl?utert Prof. Dr. Matthias Middell, Kulturhistoriker an der Universit?t Leipzig und Sprecher des FGZ, den Wert einer solchen Perspektive – und wieso Zusammenhalt ohne Streit gef?hrlich ist.

Warum interessieren Sie sich für einen globalen Blick auf ?gesellschaftlichen Zusammenhalt“? Wieso ist das bei all den Herausforderungen für uns in Deutschland relevant?

Zun?chst, also 2015/16, erschien die Zusammenhaltsdebatte als eine spezifisch deutsche Reaktion auf die Herausforderungen durch Pegida und AfD. Schnell war die Rede von der Gefahr einer gespaltenen und polarisierten Gesellschaft, und quasi alle Parteien und Politiker:innen bekannten sich zum Ideal eines, allerdings ungenau definierten, gesellschaftlichen Zusammenhalts. Seitdem beobachten wir eine rasante Ausbreitung des Rufs nach Zusammenhalt angesichts meist rechtspopulistischer Bewegungen, Regime- und Staatenlenker:innen – von Trump in den USA über Orbán in Ungarn zu Ka?s Sa?ed in Tunesien. 

Gleichzeitig forciert beispielsweise die chinesische KP eine Diskussion über die Art und Weise, diesen Zusammenhalt herzustellen und auszubauen, die eine Absage an westliche Vorstellungen von Zusammenhalt darstellt. Unsere deutschen Zusammenhaltsdiskurse sind also Teil einer globalen Auseinandersetzung über Politik und demokratische Teilhabe der Zukunft. Es lohnt sich genau hinzuschauen, welche Argumente und Motive in unsere Definition von Zusammenhalt einflie?en. Denn der Begriff ist nicht immun gegen totalit?re, nationalistische, fremdenfeindliche und individuelle Freiheitsrechte einschr?nkende Bedeutungsfacetten – so sympathisch er im ersten Moment erscheinen mag.

Wie wird dieses Konzept denn in der internationalen Forschungslandschaft diskutiert, welche regionalen Unterschiede tun sich hier auf?

Die Aufmerksamkeit für populistische Bewegungen und Regime ist in den letzten Jahren in vielen Teilen der Welt fast exponentiell gewachsen, denn ihr Wachsen fordert regionale und nationale politische Systeme ebenso heraus wie die Formate der internationalen Ordnung. Dabei sind die Unterschiede zwischen all den diagnostizierten Populismen betr?chtlich. 

Interessanterweise ist aber auch die F?higkeit und Bereitschaft vieler Populist:innen zu Allianzen enorm, auch wenn es programmatisch gar nicht ohne Weiteres zu erwarten w?re. Wir sehen das im EU-Parlament ebenso wie beim Treffen der BRICS+ oder in der Koalition von Milit?rjuntas in der Sahelzone. Und viele warten mit Spannung auf den Ausgang der n?chsten amerikanischen Pr?sidentschaftswahlen, bevor sie sich mit Prognosen über den Zusammenhalt in den USA hervorwagen. 

Interessanterweise führt das aber erst einmal in eine fragmentierte Forschungsdiskussion, bei der jeder Fall einzeln er?rtert wird, aber der globale Zusammenhang gar nicht besonders zu interessieren scheint – abgesehen vom Befund, dass man es wohl überall mit Populismus zu tun habe. Dies liegt vor allem daran, dass erstens die jeweiligen historischen und sozio?konomischen Kontexte tats?chlich sehr verschieden sind, und dass zweitens der globale Vergleich Zusammenarbeit verschiedener Regionalexpert:innen in einem gemeinsamen Projekt erfordert, die oft gar nicht vorhanden ist.

Das FGZ schlie?t seine erste F?rderperiode in wenigen Monaten ab. Was zeichnet in Ihren Augen die Forschung am FGZ und speziell am Leipziger Standort besonders aus?

Die Universit?t Leipzig hat sich in das FGZ – immerhin ein bundesgef?rdertes Forschungsinstitut an elf Standorten – mit einer gro?en Zahl von Schwerpunkten eingebracht. Diese reichen von der Extremismusforschung, der historischen Forschung, der Sozialpsychologie und der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Untersuchung des Versprechens gleicher Lebensverh?ltnisse bis zu den Area und Global Studies. Mit dem Profil, global beobachtbare Dynamiken zu analysieren, ist der Leipziger Standort besonders aktiv in der ?ffnung des FGZ über eine deutsche Nabelschau hinaus. Das gelingt, indem wir Empirie einbringen zu Ost- und Westeuropa, China, den USA und dem subsaharischen Afrika und damit neue Fragen generieren, die die vertiefte Betrachtung des deutschen Falles allein vielleicht gar nicht aufwerfen würde.

Das Konzept des gesellschaftlichen Zusammenhalts hat in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Aufstieg zu einem zentralen Schlagwort in politischen und sozialwissenschaftlichen Debatten erlebt. Wie erkl?ren Sie als Historiker sich diesen Aufstieg, womit h?ngt er m?glicherweise zusammen?

Zun?chst reagierte der Begriff auf eine Irritation in den politischen Systemen und auf die wachsende W?hlerschaft rechtspopulistischer Parteien. Doch inzwischen muss man den Radius gr??er ziehen. Mir scheint, dass im Verlangen nach ?Zusammenhalt“ verhandelt wird, wie wir mit den Herausforderungen und Zumutungen der 2020er Jahre umgehen wollen: Die oftmals schon ideologische Globalisierungseuphorie hat sich abgeschw?cht, gleichzeitig ist ein vollst?ndiger Rückzug aus den entstandenen Verflechtungen kaum realistisch. 

Das Scheitern des Versprechens, dass die ?Globalisierung“ Frieden für immer, früher oder sp?ter Wohlstand für alle und eine neue Weltordnung des automatischen Interessenausgleichs hervorbringe, muss verarbeitet werden. Die Weltgesellschaft wird es also vorl?ufig nicht richten. Da liegt es nahe, sich wieder auf Gesellschaft im alten nationalen Gewand zu besinnen – nur sind eben deren Grenzen ganz anders por?s geworden, als es der Traum abgeschotteter Entit?ten wahrhaben will. 

Und gleichzeitig dr?ngen uns Pandemieerfahrungen und das Entsetzen über die Folgen des Klimawandels zu mehr Kooperation statt weniger. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, unser Zusammenleben vor Ort, in Nationalstaaten und auf dem Planeten neu zu denken. Der diskursive Zufall will es, dass wir das diesmal in Begrifflichkeiten des gesellschaftlichen Zusammenhaltes tun, wie wir es in früheren Epochen beispielsweise etwa um den Zentralbegriff der Solidarit?t oder den der Nation getan haben. Die Problemlage entwickelt sich historisch, aber sie bleibt auch im Kern die gleiche – wie justiert man Teilhabe und Kooperation?

Wozu r?t die Forschung: Was tun gegen zunehmende Polarisierung und das Br?ckeln des Zusammenhalts?

Schon die Diagnose scheint mir zweifelhaft. Dass wir diskutieren und politisch streiten, zeigt die Gr??e der Herausforderung und die Tatsache, dass niemand beanspruchen kann, schon die finale L?sung zu kennen. Dort, wo wir in so einer Situation nicht mehr streiten, ist die Entwicklung vermutlich zum Stillstand gekommen. Ob jede Form des Streits optimal ist, ist eine ganz andere Frage. Aber ich rate dazu, diesen notwendigen Streit fr?hlich anzunehmen und mit Gelassenheit zu führen – er ist die beste Form des Zusammenhalts, die wir haben, sowohl in Deutschland, als auch in den vielen globalen Settings. Ich halte den Traum von einem Zusammenhalt ohne politische Auseinandersetzungen über die besten L?sungen für gef?hrlich – in der Geschichte kennen wir viele Beispiele, wie das schief gegangen ist. 

Politische Auseinandersetzungen sind allerdings das Gegenteil von dem, was h?ufig als Polarisierung beschrieben wird, denn in extrem polarisierten Situationen wird dem Gegenüber das Recht abgesprochen, eventuell auch Recht zu haben, oder sogar das Recht, mitreden zu dürfen. Kippen Gesellschaften in diesen Zustand, berauben sie sich entscheidender Entwicklungsm?glichkeiten, die sich nur durch permanente Lernbereitschaft ergeben.
 

Das Forschungsinstitut
Am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) arbeiten über 200 Wissenschaftler:innen zu Fragen des Zusammenhalts: Identit?ten und regionale Erfahrungswelten, Ungleichheiten und Solidarit?t, Medien und Konfliktkultur, Polarisierung und Populismus, aber auch Antisemitismus und Hasskriminalit?t. Zum FGZ, das 2020 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ins Leben gerufen wurde, geh?ren bundesweit elf Standorte. Das Teilinstitut Leipzig ist am Leipzig Research Centre Global Dynamics angesiedelt und besteht aus rund 20 Wissenschaftler:innen. Sie untersuchen in 14 interdisziplin?ren Projekten die Vielfalt populistischer Bewegungen und Regimes sowie ihre Akzeptanz in den Bev?lkerungen seit dem sp?ten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Dazu z?hlen Fallstudien für das westliche und ?stliche Europa, die beiden Amerikas, das subsaharische Afrika und Ost-, Süd- sowie Südostasien mit der Absicht, die Entwicklungen in Deutschland in einen breiteren, letztlich globalen Kontext einzuordnen.