Pressemitteilung 2021/154 vom

Wissenschaftler:innen der Arbeitsgruppe Genetik vom Institut für Biologie der Fakult?t für Lebenswissenschaften der Universit?t Leipzig ver?ffentlichen gemeinsam mit Kolleg:innen der Harvard University, der Brandeis University und der University of Cambridge eine Studie zur Wahrnehmung von Temperaturen durch das Gehirn. Das internationale Wissenschaftler:innen-Team entdeckte erstmals den Mechanismus der Informationsaufnahme von Temperaturver?nderungen und das daraus resultierende Verhalten anhand der Drosophila-Larve.

?Die meisten Tiere haben eine Temperaturpr?ferenz – ein sogenanntes Optimum. Das ist auch bei uns der Fall“, sagt Prof. Dr. Andreas Thum, Leiter der Arbeitsgruppe Genetik an der Universit?t Leipzig, der mit zwei seiner Studierenden an der Studie teilgenommen hat. ?Vielen von uns ist der Winter zu kalt und der Sommer zu warm.“ Die Fragestellung für das internationale Team der Universit?t Leipzig, der Harvard University, der Brandeis University und der University of Cambridge war daher: Wie nehmen Organismen Temperaturen wahr, und welche Mechanismen erm?glichen es, Temperaturanstiege und -abf?lle zu erkennen, und wie nutzt das Gehirn diese Informationen, um dann das Verhalten zu ?ndern?

Zum ersten Mal beschreiben die Forschenden durch den Einsatz neuartiger genetischer, physiologischer, anatomischer und verhaltensbiologischer Techniken in ihrer Arbeit, die in der Fachzeitschrift Science Advance ver?ffentlicht wurde, neue temperaturaktivierte sensorische Neuronen und Moleküle in der Drosophila-Larve. ?Da die Untersuchung, wie ?berhitzung oder Unterkühlung bei S?ugetieren vermieden wird, sehr komplex ist und eine Vielzahl physiologischer Mechanismen umfasst, die von Gef??verengung und Schwitzen bis hin zu Zittern und motorischen Navigationsprogrammen reichen, ist es wichtig zu verstehen, wie diese Mechanismen funktionieren. Etwas einfacher l?sst sich dieses Ph?nomen bei poikilothermen Tieren wie Fischen, Reptilien und Insekten untersuchen, die ihre K?rpertemperatur nicht durch physiologische Mechanismen regulieren k?nnen. Diese Tiere sind auf Navigationsman?ver angewiesen, um Regionen zu finden, deren Temperatur n?her an ihrem hom?ostatischen Sollwert liegt. Einige poikilotherme Tiere wie Pythonvipern, H?hlenk?fer und Drosophila-Larven haben eine ausgepr?gte neurale und verhaltensm??ige Thermosensitivit?t entwickelt. Diese Eigenschaft, zusammen mit der starken genetischen Ausstattung von Drosophila, macht die Fliegenlarve zu einem idealen Instrument für die Untersuchung der hom?ostatischen Regulierung“, erkl?rt Dr. Luis Hernandez-Nunez von der Harvard University, der Erstautor der Studie.

Diese Entdeckung erm?glichte es den Forschenden, die sensomotorischen Ver?nderungen zu analysieren, die Fliegenlarven nutzen, um Ver?nderungen der Umgebungstemperatur zu erkennen und diese Informationen zur ?nderung ihres Verhaltens zu nutzen. Sie beschreiben erstmals eine temperaturabh?ngige Kreuzhemmung zwischen gegens?tzlichen sensorischen Neuronen, die durch Erw?rmung und Abkühlung aktiviert werden und die Larve effizient zu ihrem hom?ostatischen thermischen Sollwert treiben und ihr helfen, dort zu bleiben. Dies unterscheidet sich deutlich von der weitverbreiteten Ansicht einer sogenannten ?labeled line“, nach der die Thermoregulation durch zwei getrennte Mechanismen erreicht wird: erstens durch ein System, das K?lte erkennt – Rezeptoren und Nervenbahnen, die die K?ltevermeidung steuern. Und zweitens durch ein System, das W?rme erkennt – Rezeptoren und Nervenbahnen, die dafür sorgen, dass das Tier W?rme meidet. ?Stattdessen stellen wir fest, dass in der Larve beide Klassen von W?rmesensoren zusammenwirken und eine wichtige Rolle spielen, egal ob die Temperatur steigt oder f?llt. Es gibt also kein unabh?ngiges W?rme- und K?ltesystem, sondern nur ein verbundenes System“, berichtet Prof. Andreas Thum.

Mit der Studie wird damit erstmalig ein quantitatives Modell aufgestellt, wie das Zusammenspiel von W?rme- und K?ltebahnen im Larvengehirn zu einer effizienten Thermoregulation führt. Anhand dieses theoretischen Rahmens k?nnen nun Vorhersagen darüber getroffen werden, wie sich die Larve als Reaktion auf unterschiedliche Heiz- oder Kühltemperaturen verh?lt. Diese k?nnen dann direkt in Experimenten getestet werden. In ?hnlicher Weise konnten mit Hilfe der seriellen Elektronenmikroskopie die Schaltkreise zweiter Ordnung im Gehirn der Larve entschlüsseln. Diese Ergebnisse erm?glichen es nun den Wissenschaftler:innen zu verstehen, wie ein einfaches Gehirn thermosensorische Informationen verarbeitet, um Verhalten zu steuern.

?Indem wir viele Schaltkreise des Larvengehirns, das aus nur etwa 10.000 Neuronen besteht, erstmals mit Hilfe der 3D-Elektronenmikroskopie beschrieben haben, gewinnen wir derzeit ganz neue Einblicke in die Anatomie des Gehirns, die es uns erm?glichen, Teile davon trotz seiner Komplexit?t funktionell zu verstehen. Die spannende Frage für unsere Forschung wird nun sein, ob wir diese Mechanismen in ?hnlicher Form auch in komplexeren Gehirnen finden k?nnen“, erkl?rt Prof. Andreas Thum.

Originaltitel der Publikat in "Science Advance":

"Synchronous and opponent thermosensors use flexible cross-inhibition to orchestrate thermal homeostasis." DOI: 10.1126/sciadv.abg6707