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Ahmet Kerim Gültekin wirkt entspannt, dabei hat der Ethnologe gerade viel Arbeit auf dem Tisch. Im Januar 2019 soll das Buch erscheinen, an dem er seit Jahren arbeitet. Es wird die schwierige Situation der kurdischen Aleviten im Osten der Türkei beschreiben, ihre Geschichte in der Region Dersim erz?hlen. Mit einem dezidierten Blick in die Geschichte, angereichert mit neuen Feldstudien und aktuellen Einsch?tzungen zu einer bis dato wenig bekannten Minderheit in der türkischen Gesellschaft.

Gültekin selbst hat lange in der Provinz Dersim gelebt und gearbeitet, die heute offiziell nur noch Tunceli hei?t. Bereits seit den 1930er Jahren gibt es in der Region immer wieder Aufst?nde gegen die politische Unterdrückung durch die türkische Regierung. Auch die PKK ist hier aktiv. Wer sich für die Interessen der Menschen vor Ort einsetzt, wird schnell als Terrorist gebrandmarkt, auch wenn er wie Ahmet Kerim Gültekin nur mit Worten und Schriften gegen die M?chtigen in Ankara k?mpft.

?Hier kann ich endlich wieder frei arbeiten und auch dieses für mich so wichtige Buchprojekt beenden.“

Der 40-J?hrige arbeitete an der staatlichen Universit?t Munzur in Tunceli. Zwei Jahre lang war er hier ?Assistant Professor“, dann wurde er vor die Tür gesetzt. In der Türkei hat er mittlerweile Arbeitsverbot, darf laut einer Anordnung vom 6. Januar 2017 Zeit seines Lebens nicht mehr für ?ffentliche Stellen arbeiten. Um den st?ndigen Verfolgungen zu entgehen, floh Gültekin im September 2018 nach Deutschland. Er erh?lt nun ein Philipp Schwartz-Stipendium und forscht seit dem 1. Oktober an unserer Universit?t in der Kolleg-Forschergruppe ?Multiple Secularities“. ?Es war nicht einfach, die Türkei zu verlassen. Aber das Risiko war zu gro?. Hier kann ich endlich wieder frei arbeiten und auch dieses für mich so wichtige Buchprojekt beenden“, sagt der Ethnologe.

Die Repressalien gegen Ahmet Kerim Gültekin begannen bereits 2012. Er wurde inhaftiert, sa? mehrere Monate im Gef?ngnis. Grund waren seine politischen und akademischen Aktivit?ten, Schriften über die Machtk?mpfe der regionalen Regierung von Dersim mit der Zentralregierung in Ankara. Seminare, Workshops, Konferenzen, an denen Gültekin teilnahm und die er aktiv mitgestaltete, wurden als ?terroristische Operationen“ eingestuft und überwacht, Teilnehmer verfolgt und inhaftiert. Ende 2012 kamen 80 von ihnen in Untersuchungshaft, 32 wurden verurteilt, auch Ahmet Kerim Gültekin. 2013 wurde er aus der Haft entlassen, durfte jedoch nicht mehr an der Universit?t arbeiten und war arbeitslos. Trotzdem war Gültekin weiter politisch aktiv, schrieb Texte für Zeitschriften über die schwierige Situation der Kurden und die systematische Verfolgung durch die Regierung Erdogans.

Im Januar 2016 war er einer der Unterzeichner der Petition ?We will not be a party to this crime“, in der die Verletzung der Friedensrechte in Sur, Silvan, Nusaybin, Cizre und in vielen weiteren Orten durch die türkische Regierung angeprangert wurde. Die Petition forderte ?den Staat auf, diese Vernichtungs- und Vertreibungspolitik gegenüber der gesamten Bev?lkerung der Region, die jedoch haupts?chlich gegen die kurdische Bev?lkerung gerichtet ist, sofort einzustellen.“ Initiiert wurde das Schriftstück von den ?Akademikern für Frieden“.

Seit der Ver?ffentlichung sei alles noch viel schwieriger geworden, erz?hlt Gültekin. Irgendwann wurde der Druck dann zu gro?, und er musste seine Heimat verlassen. ?Die Türkei ist mein Land, aber ich wollte nicht wieder zurück ins Gef?ngnis!“, sagt er. Leipzig soll für ihn nun mindestens zwei Jahre lang der Ort sein, an dem er in Ruhe leben und arbeiten kann. Die Stadt gef?llt ihm. Und etwas einfacher ist es nun auch, denn seit kurzem wohnt seine Freundin bei ihm.

Zur Initiative:

Die Philipp Schwartz-Initiative ist nach dem Pathologen jüdischer Abstammung Philipp Schwartz benannt, der 1933 vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen musste und die ?Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“ gründete. Die Initiative wurde von der Alexander von Humboldt-Stiftung gemeinsam mit dem Ausw?rtigen Amt ins Leben gerufen und erm?glicht Universit?ten, Fachhochschulen und au?eruniversit?ren Forschungseinrichtungen in Deutschland die Verleihung von Stipendien für Forschungsaufenthalte an gef?hrdete Forscherinnen und Forscher. Finanziert wird sie durch das Ausw?rtige Amt, die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, die Andrew W. Mellon Foundation, die Fritz Thyssen Stiftung, die Gerda Henkel Stiftung, die Klaus Tschira Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, den Stifterverband sowie die Stiftung Mercator.

In der nunmehr vierten Runde der Philipp Schwartz-Initiative konnten 31 Einrichtungen gef?hrdete ausl?ndische Wissenschaftler bei sich aufnehmen. Vergeben wurden F?rdermittel für insgesamt 35 Forscher, 91 waren zuvor nominiert worden. Ausschlaggebend für die Entscheidung waren laut Humboldt-Stiftung neben der Qualit?t der Einbindung, der wissenschaftlichen Passung und Qualifikation der Forscher auch die Perspektiven für einen erfolgreichen beruflichen Neustart.

Für unsere Universit?t ist Ahmet Kerim Gültekin der zweite Stipendiat. In der ersten Runde der Initiative wurde 2016 ein syrischer Veterin?rmediziner ausgew?hlt, der aktuell durch ein Verl?ngerungsstipendium noch weiter gef?rdert wird. Er arbeitet in der Gruppe seines Mentors Gottfried Alber, Leiter des Instituts für Immunologie der Veterin?rmedizinischen Fakult?t.