Pressemitteilung 2022/053 vom

Am Mittwoch wandte sich das h?chste Gericht der Vereinten Nationen an Russland und forderte, den Krieg in der Ukraine sofort zu stoppen. ?Die ungew?hnlich schnell ergangene Anordnung trotz bestehender Zweifel an der Zust?ndigkeit des Gerichtshofes zeigt, dass die Staatengemeinschaft die russische Aggression mit gro?er Einigkeit verurteilt“, sagt Prof. Dr. Stephanie Schiedermair. Die Professorin für Europarecht, V?lkerrecht und ?ffentliches Recht an der Universit?t Leipzig unterscheidet bei der Diskussion um das V?lkerrecht zwei Fragen: Ist der Angriffskrieg eine rechtswidrige Aggression? Und zum anderen: Hat Russland im Krieg auch das humanit?re V?lkerrecht verletzt? Beide Fragen beantwortet die Expertin mit einem klaren Ja. Im Interview erkl?rt Stephanie Schiedermair, wo das V?lkerrecht eigentlich verbrieft ist, was Russland und speziell Putin jetzt drohen k?nnte und was die gestrige Anordnung des Internationalen Gerichtshofs bedeutet.

Am Mittwoch hat der Internationale Gerichtshof (IGH) angeordnet, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine sofort beenden muss. Wie bewerten Sie diese Anordnung und was k?nnte nun folgen?

Diese schnelle, klare Anordnung ist rechtspolitisch sehr zu begrü?en. Die Entscheidung wurde in den beiden ersten Punkten mit dreizehn zu zwei Stimmen, im letzten Punkt einstimmig gef?llt. Der russische Richter und aktuelle Vizepr?sident des IGH macht in seiner zu der Entscheidung ver?ffentlichten Erkl?rung deutlich, dass er die Zust?ndigkeit des IGH aus rechtlichen Gründen für nicht gegeben h?lt, da Russland die Zust?ndigkeit des IGH nur für Streitigkeiten aus der V?lkermordkonvention anerkannt habe, es hier aber um einen Versto? gegen das Gewaltverbot gehe. Die Pl?tze der russischen Vertreter blieben bei der Anh?rung vor dem IGH leer, was zeigt, dass Russland sich argumentativ auf verlorenem Posten sieht, aber gleichwohl international sein Gesicht nicht verlieren m?chte. Die schriftliche Erkl?rung Russlands spricht im Hinblick auf den Einmarsch in die Ukraine von einem ?Akt der Selbstverteidigung“, was objektiv natürlich falsch ist, aber gleichwohl zeigt, dass Russland nicht als Rechtsbrecher vor der internationalen Gemeinschaft stehen m?chte. Die ungew?hnlich schnell ergangene Anordnung des IGH trotz bestehender Zweifel an der Zust?ndigkeit des Gerichtshofes zeigt, dass die Staatengemeinschaft die russische Aggression mit gro?er Einigkeit verurteilt. Es wird nun ein Hauptverfahren vor dem IGH folgen, das den Konflikt nicht l?sen, aber zur Transparenz der Vorg?nge beitragen und schlie?lich im Urteil die Position des IGH als dem von der Staatengemeinschaft getragenen Gerichtshof zum Ausdruck bringen wird.

Wo ist das V?lkerrecht eigentlich verbrieft?

Das V?lkerrecht funktioniert etwas anders als das nationale Recht. In Deutschland etwa haben wir eine Vielzahl an Rechtsquellen wie das Grundgesetz oder Rechtsverordnungen. Im V?lkerrecht ist es komplexer und variabler, weil die knapp 200 Staaten der Welt innerstaatlich alle unterschiedliche Rechtssysteme haben. Sie agieren nach au?en miteinander auf Basis des V?lkerrechts. Ihm liegen drei Rechtsquellen zugrunde: Zum einen gibt es v?lkerrechtliche Vertr?ge, das sind verbindliche Vertr?ge zwischen den Staaten, die bi- oder multilateral abgeschlossen werden k?nnen, wie zum Beispiel die UN-Charta oder in spezifischen Bereichen Vertr?ge, die die Luftfahrt oder das Seerecht regeln. Die zweite Rechtsquelle des V?lkerrechts ist das V?lkergewohnheitsrecht. Das sind Grunds?tze, die sich über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte in der internationalen Gemeinschaft entwickelt haben. Sie sind von allen Staaten anerkannt. Im humanit?ren V?lkerrecht hat man sich darauf verst?ndigt, dass sogar im Krieg bestimmte Regeln gelten und eben nicht gezielt Schulen, Kitas oder Krankenh?user bombardiert werden dürfen. Die dritte Rechtsquelle des V?lkerrechts sind allgemeine Rechtsquellen. Sie spielen aber eine untergeordnete Rolle, weil zunehmend Regelungen, die gewohnheitsrechtlich anerkannt sind, auch kodifiziert werden.

Wer überwacht die Einhaltung der Vertr?ge oder verurteilt ihre Verletzung?

Das ist ein sehr komplexes System. Wir müssen eine fundamentale Unterscheidung treffen: Im V?lkerrecht gibt es keine zentrale Durchsetzungsgewalt, wie wir sie im nationalen Recht kennen. Wer nationale Gesetze nicht einh?lt, kann zur Not dazu gezwungen werden. Das gibt es im internationalen Recht nicht, hier haben wir keine Polizeigewalt und so obliegt die Durchsetzung des V?lkerrechts der Staatengemeinschaft als solcher. Dafür haben sie verschiedene Institutionen geschaffen: Die Vereinten Nationen als weltweites Gremium etwa. Ein Organ der Vereinten Nationen ist der Internationale Gerichtshof, kurz IGH. Hier k?nnen Staaten auftreten, die sich der Jurisdiktionsgewalt des Gerichtshofs unterworfen haben. Das IGH ist ein reiner Staatengerichtshof, es k?nnen also nur Staaten klagen und verklagt werden, keine Einzelpersonen. Im Moment ist hier ein Verfahren gegen Russland wegen des Ukrainekriegs anh?ngig, in dem zun?chst die Zust?ndigkeit des IGH gekl?rt werden muss.

Daneben gibt es noch den Internationalen Strafgerichtshof, IStGH abgekürzt. Das ist eine moderne Entwicklung, das V?lkerstrafrecht ist noch relativ jung. Es entstand aus den Tribunalen in Nürnberg und Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieses Gericht verurteilt Individuen für schwerste Verbrechen wie V?lkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch hier müssen sich die Staaten der Jurisdiktionsgewalt unterwerfen, das haben weder Russland noch die Ukraine getan. Allerdings hat die Ukraine in einer Ad-hoc-Erkl?rung die Zust?ndigkeit des IStGH bei der m?glichen Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit seit November 2013 für unbestimmte Zeit anerkannt. Am IStGH l?uft auch schon ein Verfahren, der Chefankl?ger hat Ermittlungen gegen Russland aufgenommen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Schlie?lich k?nnen beim Europ?ischen Gerichtshof für Menschenrechte, kurz EGMR, Individuen klagen, aber die Klage muss sich gegen einen Staat richten. Der EGMR hat im Eilverfahren schon eine Entscheidung zum Ukrainekrieg gef?llt, das kommt in dieser Kürze nur sehr selten vor. Das ist interessant, die ukrainischen Kolleg:innen müssen sehr gut vorbereitet gewesen sein. Denn nur vier Tage nach dem ?berfall durch Russland wurde schon der Antrag auf Eilentscheidung beim EGMR eingereicht. Hier geht es um das humanit?re V?lkerrecht. Das Gericht hat festgestellt, dass Russland es gebrochen hat, indem es zivile Ziele und zivile Einzelpersonen bombardiert hat. Nun kann man sich fragen: Was nützt diese Entscheidung? Das EGMR kann Putin nicht festnehmen, da es keine Polizeigewalt hat. Aber die Prangerwirkung dieser Urteile darf man international nicht untersch?tzen.

K?nnte auch Putin selbst vor Gericht gestellt und verurteilt werden?

Putin k?nnte theoretisch vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden. Doch im Moment genie?t er als Staatsoberhaupt grunds?tzlich Immunit?t. Das ist eine gro?e Diskussion im V?lkerrecht, inwiefern man im Amt befindliche Staatsoberh?upter anklagen kann. Einige sind der Auffassung, wenn im Amt schwerste Verbrechen begangen werden, dann muss eine Ausnahme von dieser Immunit?t gelten. Diese F?lle diskutieren wir jetzt seit vielen Jahren und es hat dazu geführt, dass jetzt auch Verfahren vor dem IStGH gegen amtierende Staatsoberh?upter er?ffnet werden, wie etwa 2009 gegen den Pr?sidenten des Sudan, Omar al Bashir. Auch im Ukrainekrieg hat Chefankl?ger Khan auf Antrag von 39 Mitgliedstaaten - auch Deutschland - ein Verfahren wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit er?ffnet, dabei sollen zun?chst m?gliche Verbrechen beider Parteien vor der Invasion Russlands und anschlie?end auch die aktuellen Ereignisse untersucht werden. Gegen einen amtierenden Staatschef hat der IStGH bisher noch kein Urteil gef?llt. Ich halte das bei Putin auch aus verfahrenstechnischen Gründen für unwahrscheinlich, wenn auch nicht für ausgeschlossen, da wir aktuell eine sehr einige internationale Gemeinschaft erleben.