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?Hier kommen wir jetzt langsam zum Objekt der Begierde“, verkündet die Künstlerin Julia Novacek und führt den Gast nach einem kleinen Anstieg auf ein Fu?ballfeld am Waldrand bei Volkartshain in Hessen. Der Rasen ist frisch geschnitten, doch gespielt wird hier schon l?nger nicht mehr. Die Tore sind wegger?umt, die Lichtanlage funktioniert nur noch teilweise. Für Novacek und ihre Kolleginnen Evamaria Müller und Ruby Behrmann ist der Fu?ballplatz ein Leerstand, an dem sich die Geschichte des Ortes und seine zukünftigen Herausforderungen erz?hlen lassen. Als ?Studio Vogelsberg“ sind die drei seit dem letzten Jahr im Rahmen einer künstlerischen Residenz des Programms FLUX in der Gemeinde Grebenhain aktiv. 2019 haben sie Geschichten aus der Region zum Episodenfilm ?HOTSPOTS – Geschichten eines Vulkans“ verwoben, der vor einigen hundert G?sten Premiere feierte. In diesem Jahr nehmen sie die Arbeit pandemiebedingt in kleineren Gruppen und drau?en auf: Die Künstlerinnen konzentrieren sich auf die Neuerz?hlung der Geschichte des unscheinbaren Fu?ballplatzes von Volkartshain. Und diese beginnt spektakul?r im Jahr 1966 mit dem Absturz eines amerikanischen Aufkl?rungsflugzeugs über dem Dorf. Den beiden Piloten gelang es, das Flugzeug noch über die H?user hinweg zu steuern, bevor es in den Wald stürzte. Sie selbst konnten sich rechtzeitig per Schleudersitz retten und wurden noch im selben Jahr zu Ehrenbürgern der Gemeinde. Eine langj?hrige Verbindung entstand, deren sichtbarstes Ergebnis der Fu?ballplatz ist, der als Teil einer Truppenübung angelegt wurde. Wenn die Künstlerinnen vom ?Studio Vogelsberg“ heute über den Platz sprechen, dann ist er Kristallisationspunkt vieler Fragen: solchen nach der Zukunft der l?ndlichen Vereine, nach neuen Ideen für Leerst?nde, nach Gehen oder Bleiben, der Relevanz des D?rflichen in der Weltgeschichte, aber auch nach dem Umgang mit Natur. ?Studio Vogelsberg“ entwickelt dafür gemeinsam mit den Bewohner*innen von Volkartshain filmische Erz?hlweisen, in denen sich Dokumentation und Fiktion vermischen dürfen. Im Austausch mit den Herren vom Sportverein, M?dchen einer Tanzschule und weiteren Akteur*innen verdichtet sich die Lokalgeschichte zu Bildern, die über den Ort hinaus Anklang finden sollen.

 

Tempor?re G?ste für langfristige Herausforderungen

Volkartshain, Schotten, Augustusburg, Fahrenwalde, Staufenberg, Gadernheim – die Landkarte kultureller Hotspots ver?ndert sich, wenn man wie das Forschungsprojekt ?Der dritte Ort? Künstlerische Residenzen in l?ndlichen R?umen (DO_KIL)“ Künstler*innen begleitet, die auf Einladung tempor?r in einer l?ndlichen Gemeinde arbeiten. Das interdisziplin?r besetzte Forschungsteam der Uni Koblenz-Landau unter der Leitung von Wiebke Waburg interessiert sich dafür, wie die Künstler*innen vorhandene l?ndliche Strukturen aufgreifen und wie sie dabei auf die Qualit?t kultureller Bildung vor Ort einwirken k?nnen. Das Projekt versteht sich aufgrund eines Forschungsdesiderats als Grundlagenforschung und nutzt ethnographische Zug?nge. Dazu verbringen wir viel Zeit in den unterschiedlichen Regionen. Wir begleiten die Künstler*innen bei Rechercheterminen, Videodrehs, Workshops und Konzeptionsbesprechungen. Wir führen Interviews mit Teilnehmer*innen und Ortsans?ssigen durch. Und wir analysieren die entstehenden Artefakte wie Aufführungen, Zeitungsartikel oder Filme. Die Feldforschung erweist sich dabei als fruchtbare Analogie, denn auch die Künstler*innen agieren innerhalb ihrer Residenz als Feldforschende ihrer jeweiligen Gemeinde. Ethnographische Praktiken sind in DO_KiL deshalb auch als Strategie zur Ann?herung an die ?Kultur des Feldes“ (Lamnek/Krell 2016, S. 592) zu begreifen.

In den kommenden Monaten wird das Forschungsteam die künstlerischen Prozesse eng begleiten und anschlie?end mit den Künstler*innen und weiteren Beteiligten reflektieren. Dabei werden sich neue Begriffe für kulturelle Bildungsprozesse in l?ndlichen R?umen entwickeln und Hotspots einer sich dezentralisierenden Kulturlandschaft sichtbar werden.

 

Künstlerische Residenzen als Gemeinwesenarbeit?

Die untersuchten Projekte sind 亚洲通_亚洲通官网¥娱乐网址 vielgestaltig. Im s?chsischen Augustusburg hat der Verein Auf weiter Flur e.V. in Zusammenarbeit mit dem Bürgermeister der Gemeinde ein Residenzprogramm ins Leben gerufen. Mit künstlerischen Mitteln m?chte er die Entwicklung des gemeinschaftlichen Lebens und Zusammenhalts f?rdern. Für jeweils sechs Monate entwickeln je drei Künstler*innen in den kommenden zwei Jahren ausgehend von dem, was ihnen vor Ort begegnet, künstlerische Arbeiten. So wurde etwa das Aussehen des Maibaums ver?ndert, der als Zeichen der Best?ndigkeit auch in Corona-Zeiten aufgestellt wurde. Statt  mit bunten B?ndern wurde er mit Stoffbahnen versehen, die Bewohner*innen mittels Blaudruckverfahren gestalteten. Es entstand ein Abbild von Wünschen und Botschaften zwischen ?Free Moria“ und Strandszenen abgesagter Urlaube in Zeiten der Pandemie. Ein Eindruck der kleinst?dtischen Diversit?t, wie die Künstler*innen Georg Scherlin und Danielle T?ndler finden.

Schon bei den ersten Besuchen des Forschungsteams wurde deutlich, dass sich künstlerisches Produkt und Prozess kaum trennen lassen. An Orten, die kein selbstverst?ndliches Kulturpublikum und keine etablierten Bühnen bieten, müssen Künstler*innen vielf?ltige Strategien anwenden, um ihre Arbeit in Anschluss mit lokalen Gemeinschaften zu bringen: Sie bieten Schulworkshops an, besuchen Vereinssitzungen, gehen zum Line Dance-Kurs und nehmen sich Zeit für Gespr?che auf dem Supermarktparkplatz. Ihre Aktionen finden an der Haustür statt oder in Dorfgemeinschaftsh?usern. Dabei verhandeln sie eigene ?sthetische Vorstellungen mit denen der Bewohner*innen und den Ansprüchen der Initiator*innen, die sich zumeist Belebung und Entwicklung des Gemeinwesens erhoffen und nachhaltige Wirkungen erwarten. Kein leicht zu navigierendes Feld!

Lamnek, Siegfried/Krell, Claudia (2016): Qualitative Sozialforschung. 6., überarbeitete Auf-lage. Weinheim, Basel: Beltz.

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Kranixfeld, Micha, M.Sc., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt "Der Dritte Ort? Künstlerische Residenzen in l?ndlichen R?umen" (DO_KiL) an der Universit?t Koblenz-Landau und forscht zudem künstlerisch mit den Theatergruppen Frl. Wunder AG und Syndikat Gef?hrliche Liebschaften.