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Covid-19: In der Demokratie ist auch die politische Bildung systemrelevant! Die Coronakrise darf nicht zur (politischen) Bildungskrise werden.

Ein Beitrag von Sabine Achour

Wurden mit den Ma?nahmen der letzten Wochen viele Menschenleben in Deutschland gerettet, zeigt sich sp?testens mit dem Aufkommen mit Ph?nomenen wie der Hygiene-Demos, dass auch die Demokratie nicht immun ist gegen ihre Feinde.

Der schulische Fokus im Kontext von Corona auf F?cher wie Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen kann zu einem gesellschaftlichen Stresstest in der Zukunft werden. Ob nach den Sommerferien ein schulischer Normalbetrieb beginnen wird, ist bildungspolitisch gewollt, virologisch ungewiss. Bei steigenden Infektionszahlen geh?rt zum Plan B die Konzentration auf die ?Hauptf?cher“.

Wir dürfen aber heute die Demokrat*innen von morgen nicht vernachl?ssigen. Corona wird zu einem Brennglas sozialer Ungleichheit, Verschw?rungsmythen und rechte Propaganda finden hier einen N?hrboden und haben Hochkonjunktur.

Narrative von einer ?Neuen Weltordnung“ machen die Runde, reproduzieren altbekannte antisemitische Stereotype von ?globalen Eliten“ und der ?Unterjochung“ der Bev?lkerung. Das Bild des ?Kampfes gegen das eigene Volk“ durch das Virus schlie?t an an den ?gro?en Austausch“. Migrationsfeindliche und antimuslimische Haltungen zeigen sich in der Gleichsetzung des Coronavirus mit Menschen auf der Flucht. Rassismus und Menschenfeindlichkeit von rechtsextremer Seite gehen einher mit gef?hrlicher Demokratieverachtung, Nationalismus und Antipluralismus. Sie bilden die Basis für vermeintlich einfache Antworten und L?sungen auf ?ngste und Unsicherheiten, insbesondere in Social Media.

Und in den sozialen Medien werden besonders viele Menschen erreicht. Denn die Alltagsexistenz verlagert sich durch Home Office und Home Schooling noch st?rker in den digitalen Raum. V.a. für Kinder und Jugendliche werden die sozialen Medien eine noch zentralere (politische) Sozialisationsinstanz, als sie es vor dem Lockdown schon waren. Denn Peers, Mitschüler*innen, Sportvereine sind für den sozialen und politischen Austausch face to face über einen langen Zeitraum weggebrochen. Entgegen weitreichender Vermutungen sind sie laut Jugendstudien aber immer noch die relevanten Gespr?chsparter*innen für gesellschaftliche Fragen. Corona hat allerdings ihre regulative Funktion stark eingeschr?nkt, menschenfeindliche oder verschw?rungstheoretische Narrative in Frage zu stellen bzw. andere Gespr?chsfoki setzen zu k?nnen. Eltern sind nicht anwesend oder anwesend, ohne da zu sein, wenn sie zuhause zeitgleich ihre Arbeit im Homeoffice organisieren. Oder sie sitzen an Kassen, fahren Busse und gew?hrleisten unsere Infrastruktur. Wir sind es ihnen schuldig, ihre Kinder gegen vermeintlich attraktive Erkl?rungen stark zu machen.

Die (politische) Sozialisationsinstanz, die prinzipiell die politische Urteils- und Handlungsf?higkeit aller unabh?ngig von ihren h?uslichen M?glichkeiten f?rdern k?nnte, ist die Institution Schule.

Die folgenden F?higkeiten von Kindern und Jugendlichen sind Garanten für die zukünftige Existenz offener Gesellschaften: Verschw?rungsnarrative, antisemitische und rechtsextreme  Codes und Memes, Fake News zu  dekonstruieren, Quellen zu bewerten, Hass im Netz und social Media mit Counterspeech zu begegnen und überhaupt die Herausforderungen an Politik in dieser Zeit analysieren und bewerten sowie im Rahmen der eigenen Interessen handlungsf?hig sein zu k?nnen.

Die Schwerpunktsetzung auf die F?cher Deutsch, Mathe und Fremdsprachen an vielen Schulen ist eine pragmatische, ressourcenbedingte und erst einmal nachvollziehbare L?sung. Es fehlen Personal und R?umlichkeiten. Auch der angestrebte Vollbetrieb nach den Sommerferien wird diese Engp?sse kaum aufl?sen. Einige Lehrkr?fte werden aus gesundheitlichen Gründen ausfallen. Die nicht zu antizipierenden Infektionsentwicklungen k?nnen auch weiterhin raumgreifende Abstandsregeln notwendig machen. Gerade deshalb müssen jetzt Konzepte initiiert werden, um eine gesellschafts-, naturwissenschaftlich, künstlerisch verarmte ?Generation Corona“ zu vermeiden.

 

Existierende Bildungsressourcen, Bildungsbedarfe und Bildungsr?ume zusammenführen!

W?hrend die Bildungsangebote an den Schulen für Kinder und Jugendliche durch etliche Engp?sse unter Druck geraten sind, setzen die Engp?sse an teilnehmenden Schüler*innen an Workshops und Angeboten der au?erschulischen Bildungstr?ger, Gedenkst?tten, Museen und Jugendherbergen eben diese unter Druck. Bildungsst?tten bleiben unbesucht, Bildungsreferent*innen, oft freiberuflich, wollen, k?nnen aber nicht mehr arbeiten. Kostbare personelle Ressourcen des Bildungssystems liegen brach. Angehende Lehrkr?fte und P?dagog*innen an den Universit?ten werden auch im kommenden Wintersemester oft weiterhin in Online-Seminaren studieren, dabei wünschen sie sich eine universit?r begleitete Theorie-Praxis-Verzahnung – insbesondere an Schulen und mit Schüler*innen.

Hier liegen wertvolle Ressourcen, Lernr?ume, Bildungsbedarfe, didaktische Ans?tze und Ideen, die seit langem für die Qualit?ts- und Demokratieentwicklung von Schule und Unterricht gefordert werden und welche das (politische) Lernen über Demokratie, durch Demokratie und für Demokratie m?glich machen: von au?erschulischen Kooperationen, Individualisierung von Lernwegen und Interessen bis hin zur st?rkeren phasenübergreifenden Verzahnung und Praxisn?he der Lehrkr?ftebildung.

 

1. Au?erschulisch-kooperatives Lernen

In allen Bundesl?ndern liegen die Orte au?erschulischer (politisch-historischer und kultureller) Bildung, Museen, Gedenkst?tten, auch Jugendherbergen, brach. Nicht nur Bildungsreferent*innen stehen bereit, h?ufig stehen hier die R?umlichkeiten zus?tzlich zur Verfügung, die an Schulen fehlen. Ehe Kinder und Jugendliche nach zwei Stunden Schule (oder gar keiner Schule) allein oder mit vielen in engen Wohnungen sitzen, k?nnen Bildungsworkshops in Kleingruppen und/ oder als Webinare stattfinden. Dazu fehlt sonst oft die Zeit. Jetzt fehlen schulische Angebote für die kostbare Lernzeit.

 

2. ?ffnung von Schule = Demokratisierung von Schule

Die Forderung nach einer demokratischen Schule geht einher mit der ?ffnung von Schule. Dies wird m?glich mit einem guten Konzept zu Kooperationen in den Nahraum. Um au?erschulisches Lernen unter Corona-Bedingungen m?glich zu machen, macht es Sinn, mit Tr?gern, Museen, Gedenkst?tten oder anderen sozialen Einrichtungen im Umfeld Konzepte zu entwickeln und im neuen Schuljahr umzusetzen.

 

3. Informelles und non-formales Lernen

Wenn Schüler*innen im Rahmen au?erschulischer Bildung künstlerische, schriftliche, visuelle, digitale (Lern-)Produkte entwickeln, miteinander diskutieren, kreativ sind, findet immer auch informell und non-formal solches Lernen by the way statt, was sonst gezielt didaktisch arrangiert wird: Sprachbildung, Quellenkritik, Medienbildung, Lernen in digitalen Kontexten, Pr?sentieren, Konflikte l?sen, Kompromisse schlie?en. Querschnitt- und Schlüsselkompetenzen gerade derjenigen k?nnen gef?rdert werden, die von sozialer Ungleichheit betroffen sind. Bildungsungerechtigkeit l?sst sich nicht in den Wohnungen auffangen, aber m?glicherweise durch informelles und non-formales Lernen.

 

4. Individualisierung und Differenzierung

Schüler*innen k?nnen im Rahmen au?erschulischer Kooperationen aufgrund der Abwesenheit von Benotung und 45?- Taktung in der Regel ihre Lernwege selbst bestimmen. Damit er?ffnen sich besondere M?glichkeiten der Individualisierung und Differenzierung. Kinder und Jugendliche setzen ihre Themen, artikulieren ihre Interessen und stellen ihre Fragen. Bildungsreferent*innen k?nnen Verunsicherungen, Pr?konzepte zu Antisemitismus, Verschw?rungstheorien und Rechtsextremismus p?dagogisch aufgreifen. Schüler*innen haben im Idealfall zu eben solchen Gespr?chspartner*innen Zugang, die sonst oft fehlen.

 

5. Fachübergreifendes & interdisziplin?res Lernen

Au?erschulisches Lernen er?ffnet zahlreiche Gelegenheiten zum fachübergreifenden und interdisziplin?ren Lernen. Covid-19 demonstriert exemplarisch: Fragen zu Medizin, Umwelt, Technik stehen mit politischen und gesellschaftlichen Abw?gungen in Zusammenhang. Au?erschulisches, gesellschaftwissenschaftliches Lernen findet ebenso fachübergreifend zu biologischen, mathemathischen, physikalischen, fremdsprachlichen usw. Schwerpunkten statt. Denn: Die Welt ist nicht in F?cher unterteilt.

 

6. ?Service Learning“: Lehrkr?ftenachwuchs als Ressourcen für Bildung – Bildungsressourcen für den Lehrkr?ftenachwuchs

Lehramtsstudierende sind eine zentrale personelle Unterstützung in den Schulen. Inwiefern die anstehenden Praxisphasen, teils bis zu sechs Monaten, in tradierter Weise vor dem Hintergrund von Hygienevorschriften stattfinden werden, ist ungewiss: Bedeutet jede hospitierende Studentin, jeder hospitierende Student im Zweifel einen fehlenden Lernplatz? So viel Mühe sich die universit?re, digitale Lehrkr?ftebildung gibt, hei?t es doch, Lehramtsstudierende in der Online-Lehre verharren zu lassen. Lehrkr?ftebildung kann aber auch forschungsorientiert Studierende beim Unterrichten von Kleingruppen (online und offline) bzw. in Phasen des au?erschulischen Lernens mit Tr?gern universit?r begleiten. Matching-Konzepte existieren h?ufig zur Zuteilung von Praktikumspl?tzen. Sie k?nnen hier helfen, auf besondere Bedarfe von Schulen bzw. Wünschen von Studierenden zu reagieren. Studierende k?nnen so fehlender Lernzeit für Schüler*innen entgegenwirken und Schulen unterstützen. V.a. k?nnen sie in der Abwesenheit von Pr?senzlehre dennoch von praxisorientierten universit?ren Bildungsangeboten profitieren.

 

7. Lehrkr?ftenachwuchs: Theorie-Praxis-Verzahnung gegen soziale Ungleichheit

Corona versch?rft Bildungsungerechtigkeit. Individualisierung, Differenzierung, Inklusion sind hier p?dagogische Schlagworte. Diese bleiben für viele Studierende an der Universit?t h?ufig theoretisch. Schüler*innen hierbei individuell zu begleiten und zu betreuen, zugleich selbst dabei wissenschaftlich von Seiten der Universit?t im Rahmen von Lehrveranstaltungen unterstützt zu werden, k?nnen ein zentraler Aspekt zur st?rkeren Theorie-Praxis-Verzahnung  darstellen. Neben konkreten Fragen didaktischer und p?dagogischer Konzeption funktionieren solche Angebote der Lernbegleitung auch digital. D.h., das Entwerfen und Planen entsprechender digitaler Lehr-Lern-Arrangements f?rdert nicht zuletzt heute schon Skills der Lehrkr?fte von morgen im Feld der gro?en Herausforderungen digitaler Schule.

Bildung für alle und niemanden zu verlieren, ist ein Versprechen der Demokratie. Dies glaubhaft zu verfolgen, ist für die Lebensf?higkeit von offenen Gesellschaften ?hnlich ?systemrelevant“ wie die politische Bildung.

Wir müssen die Krise von heute als (Bildungs)Chance für morgen nutzen.